Für die Älteren unter Ihnen wird es eine Binsenweisheit sein, für die Jüngeren vermutlich wenig relevant, für mich aber ist es eine erstaunliche Sache, dessen gewahr zu werden, dass ich erst jetzt, wo ich mit sechzig die Mitte meines Lebens erreicht habe, zu verstehen beginne, was Lernen ist, wie es geschieht, wie es sich in mir ereignet und wie kostbar diese unergründliche Fähigkeit ist, die wir Menschen mit allem teilen, was lebt – und deshalb fortwährend lernt. Offenbar muss man erst in ein Alter hineinkreisen, in dem der Vorrat an Körpererfahrung so groß geworden ist, dass gewisse Aufmerksamkeiten deutlicher werden als zu Zeiten, in denen die totale Bedenkenlosigkeit über jede Hürde hilft und eben dadurch auch zu mancher Schramme führt, um den handfesten Kontakt mit der sinnlichen Welt bewusster, ein klitzekleines bisschen bedachter, eine fast unmerkliche Spur behutsamer aufzunehmen und so diesen feinen Spalt zwischen der Absicht und der früher nahtlos anschließenden Handlung zu entdecken, durch den das Wie und Warum der Zusammenhänge des Augenblicks in die Wahrnehmung hineinblitzt, so dass der innere Notar registriert: Gerade lernst du absichtslos, auf eine tiefere Art als früher, du erkennst den Kontext breiter, du kennst deinen Körper besser und wählst eher den Impuls als die Kraft, den gleichmäßigeren Weg als den waghalsigen, du kennst dein Denken und nutzt die Koordinaten deines geistigen Innenraums zielsicherer, du kennst dein Fühlen und hältst erst ein winziges bisschen inne, bevor du dir einen Gefühlsausbruch erlaubst – und wenn er erlaubt ist, dann lebst du ihn strömender, verbundener aus, schöpfst aus einer Stärke, die – ja, auch das spüre ich mir überraschenderweise zuwachsen – dir nun in viel größerem Maß zur Verfügung steht, weil du die Male, in denen du solchen Ausbruch geübt hast, in dir leuchten siehst wie die Bahn eines Meteors, der endlich zur chymischen Hochzeit mit dem Himmelskörper findet, dem er in langer Bahn geduldig und, sich allmählich offenbarenden Regeln gehorchend, rasend entgegengeschwebt ist und nun glühend und explodierend in ihn hineinstürzt.

Was für komplizierte Sätze – sicherlich sagen wieder einige unter Ihnen, er lernt es nie: Kurz schreiben, nur ein Komma verwenden! Sonst kommt man nicht mit und steigt aus. Liest nicht weiter. – Seien Sie versichert: Er kann es. Aber er will nicht. Die Sätze müssten in Wahrheit viel verschränkter sein, spiralförmig ineinander verwunden, mehrstimmig, von vorne nach hinten und von oben nach unten verflochten, um die Intensität des vom Leben herangetragenen ­Erkennens vermitteln zu können, dass nach so vielen Jahren des Tuns, des Denkens, des Zuhörens und Annehmens endlich ein Licht zwischen Absicht und Handlung hervorblitzt – wie gesagt, die Älteren werden es kennen und mich belächeln –, das mich mit der Freude des Verstehens beschenkt. Wenigstens ein bisschen, noch anfänglich, doch verheißungsvoll – und klar mit dem Appell verbunden: Mensch, lerne, verstehe, jetzt! Bevor dich die – wie erst kürzlich amtlich festgestellt wurde – bestürzend zunehmende Demenz ereilt.

Genießen Sie den Frühling! Herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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