Kürzlich sollte ich auf dem Kongress »UnvergEssbar« in Witzenhausen über die Vision einer essbaren Zukunft sprechen. Urbanes Gärtnern und solidarische Landwirtschaft waren die Kongressthemen. Es lebte eine schöne Stimmung unter den begeisterten Leuten. Doch schien mir der globale Kontext der Weltwirklichkeit nicht ganz präsent zu sein. Es ist ja auch viel verlangt: Solange ein überholtes Eigentumsrecht den Raubbau an unseren Böden samt der auf ihnen praktizierten großflächigen Vergiftung von Pflanzen, Insekten, Bakterien und Menschen gestattet, bleibt die Vision eines in der Tiefe guten Lebens Illusion.

Es fiel mir schwer, etwa von der Übernutzung unserer Biosphäre abzusehen und eine leuchtende Zukunft zu malen. Die große Liebeskraft, mit der die vielen jungen Menschen ihrer Sache dienten, hemmte mich, ihr Streben allzu hart auf die globale Realität prallen zu lassen. Um nicht ohne positiven Ausblick zu enden, appellierte ich an uns alle, jetzt wegweisende Praxis, wegweisende Gemeinschaft, wegweisendes Nein-Sagen zu den ärgsten Verbrechen des agroindustriellen Komplexes zu proben und bei unseren aufbauenden, die Welt wärmenden Handlungen das Wissen im Herzen zu behalten, dass uns unser Lebensstil, selbst der nachhaltigste, bald durch ein Tal der Tränen führen wird.

Danach musste ich aufbrechen – in Klein Jasedow wartete die Fertigstellung dieser Oya-Ausgabe. Da kam eine junge Frau, die sagte, sie habe weinen müssen. Ob ich schuld sei, fragte ich. Nein, sie habe nur die schier ausweglose Lage und die Größe der Aufgabe gefühlt. Ein Mann bedankte sich und sagte, er habe geweint. Es sei nötig, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Als ich schon beim Auto stand, kam noch eine Frau weinend auf mich zu: Nein, ich sei nicht schuld, es sei der Blick auf die Wahrheit. Sie fühle sich meist allein, wenn sie die hoffnungsvolle Arbeit im Garten an der übermächtigen Realität messe.

Im Deutschlandfunk hörte ich dann den großen Choreografen John Neumeier über seine Kunst sprechen, vollständig verbunden mit seiner Gegenwart. Ich dachte an den Kongress und wünschte, wir alle könnten, wie er, solche Intensität ­lebenslang aufbringen, solche Durchdringung der Materie in alle Zusammenhänge hinein. Neumeier hatte Lieblingsmusiken dabei. Bei »Bridge Over Troubled Water« musste ich schon schlucken. Bei »Erbarme dich, mein Gott« aus Bachs Matthäuspassion war’s dann auch mit mir vorbei. Ich heulte.

Auf der A9 hinter Dessau brach die Kupplung meines treuen Autos. Der Abschleppwagen setzte mich an einer einsamen Werkstatt mitten im Fläming ab. Als ich nach acht verlorenen Stunden endlich in einem von weit hergeschafften Leihwagen saß, mich auf die restlichen 350 Kilometer vor mir einstimmte und plötzlich mein Mittelfinger zu schmerzen begann, den ich bei meinem Vortrag in der Wandtafel des Hörsaals eingeklemmt hatte, musste ich ob der unglaublichen Inkongruenz der Ereignisse dieses Tages laut lachen. Um 2 Uhr morgens, schon fast zu Hause, sprang mir ein Reh vor den Leihwagen. Ich verletzte es trotz achtsamster Fahrweise. Und das Mietauto hat eine teure Delle …

Wie tragikomisch ist diese Welt! Die Botschaft noch suchend, herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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