Wenn Sie in den Spiegel sehen – was schaut Ihnen entgegen? Haben Sie irgendetwas von dem, was Sie da sehen, selbst hervorgebracht? Haben Sie Ihre Haare selbst gemacht? Ihre Haut, Ihre Augen, Ihre Nase, Lippen, Zähne gar? Woraus besteht das alles? Woraus bestehen Sie?

War das alles nicht ursprünglich Pflanzenleben? Tierleben? Wer hat denn Ihre Blastozyste hergestellt – den ersten kleinen Zellhaufen in der Gebärmutterschleimhaut Ihrer Mutter? Sie selbst? Ihre Mutter? Woraus hat der ­Körper Ihrer Mutter die Eizelle hergestellt, der Sie entwachsen sind? Woraus der ­Körper Ihres Vaters das Spermium, das zur Eizelle getanzt ist und um Einlass geworben hat? Haben wir Menschen irgendetwas, auch nur das Allerkleinste, am Fleisch unseres Körpers selbstgemacht?
Stammt das nicht alles von Karotten-, Spinat-, Salat-, Reis-, Weizen-, Tomaten- und Kartoffelpflanzen? Von Hühnern, Kälbern, Schweinen, Kabeljau? Wahlweise vegan: von Milchsäurebakterien, Hefepilzen und Pantoffeltierchen? Das ist doch kein totes Material – das war doch mal lebendig, nicht wahr? Was ist denn damit passiert? Es wurde gegessen und getrunken. Getötet – Tod ist Tod, gleich, welches Lebewesen ihn erleidet –, zerschnitten, zermahlen, zerkocht, zerkaut, zerquetscht, hinuntergeschluckt, verdaut. Und das soll’s dann gewesen sein? Dann ist es nur noch Abfall? Kot, Dreck, Urin, Pisse und Kacke, pfui?

Bin ich nicht in Wahrheit ein ziemlich großer Haufen transformierter Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikroben? Ein Klops aus organischem Recycling­material? Ein Musterbeispiel effizienter Nutzung von »Biomasse«? Kein Dschinn, kein Mensch, keine Maschine hat die Bausteine für meinen Körper geliefert, nur andere Lebewesen – in endloser Verkettung. Wie aber wurde die Karotte zu meinem Haar, das Zicklein zu meiner Haut, der Pfifferling zu meinem Backenzahn, der Rucola zu meinem Zehennagel, das Sauerkraut zu meinem Knöchel, die Hagebutte zu meinem Muttermal, die Haselnuss zu meiner Rippe, die Sojabohne zu meiner Herzklappe, die Amöbe zu meinem Gehirn? War ich irgendwie an dem Transformationsprozess beteiligt? Oder vollzieht sich das völlig ohne mein Zutun? Auf magische Weise autonom, autopoietisch – selbstgesetzlich, sich selbst erschaffend? – Von nichts kommt nichts.

Um zu benennen, wie aus einem Karottenprotein ein Menschenprotein entsteht, wie es an den richtigen Ort in meinem Körper gelangt und von dort rechtzeitig wieder ausgeschwemmt wird – reicht dafür unser Hirn? Ein einzelner Wirkungspfad mag wissenschaftlich nacherzählt werden. Unmöglich, alle Pfade zu Ende zu denken: Damit überhaupt ein Darm existiert, müssen ­zuvor schon Karottenleiber und weitere Lebewesen sich hingeopfert haben, um Bausteine für Darmzellen zu liefern. Wer baut sie zusammen? Etwa ich? Durch meiner Hände Arbeit? Woher weiß die Darmzelle, was eine Darmzelle ist? Wer baut die DNA zusammen, die Zellmembran, die Mitochondrien? Wer sorgt für die Zellflüssigkeit? – Warum ist überhaupt alles so, wie es ist?

Ahnungslos, aber herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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