Manchmal kommt mir unser Mitteleuropa – genauer: die Gegend, in der man Deutsch spricht – vor wie ein Fünfzigerjahrewohnzimmer, in dem die Spielzeugeisenbahn aufgebaut ist. Eifrig bastelt die Familie an Landschaften, Bahnübergängen, Straßenszenen, ein Unfall darf auch dabei sein, detailreich mit handbemalten Plastikfigürchen dargestellt, und, naja, heute darf noch eine Demo gegen ein Flüchtlingsheim hindrapiert werden. Dann wird an den Schaltern gedreht, und die Züge fahren hierhin und dorthin, am Ende immer im Kreis ­herum, mal im Dunkel eines Tunnels, mal im hellen Licht der Öffentlichkeit. Mal gibts einen Kurzschluss, mal eine Entgleisung, doch schnell ist alles wieder aufgestellt, und die Maschinchen surren emsig weiter auf ihren Gleisen.

Derweil tobt draußen vor dem Wohnzimmer die wahre Welt. Zeichner werden hingerichtet; Christen werden die Gurgeln durchgeschnitten, die Häupter abgetrennt und so auf den entseelten Rümpfen postiert, dass ihre toten ­Blicke über den blutroten Strand aufs weite Meer hinaus weisen, derweil religiöse Gesänge den Gott der Täter preisen; ein Kampfpilot wartet betend in einem Käfig auf das heranzüngelnde Feuer, für einige Augenblicke sieht man ihn von Bein zu Bein hüpfen, als die Lohe seinen spritdurchtränkten Guantanamo-Overall erfasst, dann krümmt sich der brennende Körper zum Käfiggestänge hin, die festgekrallten Hände lösen sich erst, als die Hitze die Sehnen des Leichnams verkürzt und der verschmorte Mensch nach hinten kippt, sogleich begraben unter einer Ladung Schutt, die ein Radlader über die grausige Szenerie kippt.

Der Schutt freilich stammt von dem zerschossenen Haus, in dessen ­Ruine der Käfig aufgebaut worden war, und in den Film, der das wahre Geschehen in High-Definition-Breite zeigt, sind Szenen geschnitten, in denen man weinende Menschen vom Bombenhagel getötete, unter den Trümmern zerbombter Häuser erschlagene Angehörige bergen sieht, Großväter, Mütter, Kinder in Fetzen.

Und »Rache!« tönt es aus allen Richtungen, während im Wohnzimmer über die stromsparende Umrüstung der Spielzeugeisenbahn gestritten wird und man sein Lieblingstellerchen wegstellt, damit niemand davon isst, den man nicht kennt. Rache – für Unrecht, das manche schon vor Generationen erlitten haben: Landnahme, Vertreibung, Ausbeutung, Unterdrückung, dauernde Lüge.

Ja, manchmal fällt es mir schwer, den Sinn meines bürgerschaftlichen Engagements in dieser unserer vergleichsweise problemlosen Weltgegend zu erkennen, angesichts der unsäglichen Dinge, die anderswo pausenlos geschehen. Dass ich den Sinn meist zu kennen glaube und trotz der Schrecken vor der Haustür fühle, dass mein aufrichtiges Tun an dem Ort, an dem ich bin, höchst geboten ist; dass ich meinem inneren Antrieb meist fraglos folge und nicht vergesse, noch im Schönsten das Grausame im Gesamtklang zu hören – für diesmal will ich mich damit nicht trösten. Für diesmal will ich stumm bleiben vor Entsetzen, einen ganzen Satz lang, und das Echo der Schreie von überall her verhallen lassen, ganz, bis ich nur noch mein Herz pochen höre. –

Einen schönen Frühlingsbeginn wünsche ich Ihnen,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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