Als meine Lebensgefährtinnen und -gefährten und ich vor vierzig Jahren ­beschlossen, gemeinschaftlich zu leben, war uns klar: Es würde eine »Ehe« sein. Ein gutes Wort, bedeutete es doch zu den Zeiten deutscher Sprachfindung »Sitte« und »Recht«, die »ewig« ­gelten sollen. Wir verstanden uns damals – und im Kern gilt das bis heute – als »Familie« im Sinn eines ­allein auf Zuneigung bauenden Lebensgemeinschaftsbunds. Für uns begründeten wir damit eine neue Sitte: Erstens, gewähre dem Selbstentfaltungsrecht jedes einzelnen Mitglieds liebevoll Raum. Zweitens, erfülle deine Pflicht (von mhd. »phlicht« – »freundschaftliche Fürsorge«), dein Selbstentfaltungsrecht so auszuüben, dass kein anderes Gemeinschaftsmitglied in seinen Möglichkeiten beschnitten wird. Drittens, fälle deine Entscheidungen – auch im ­Konfliktfall – so, dass sie die Gemeinschaft nähren. Ich nenne das »konvergent« (von lat. »convergere« – »sich hinneigen«) zu denken, zu fühlen und zu handeln. Das lässt sich lernen, und im Lauf der Jahrzehnte kann daraus ein illu­sionsloses, aufrichtiges und unbedingtes Einverstandensein mit den Einzelnen reifen, das alle Eigen‑­Arten über bloßen Respekt hinaus mit Liebe bedenkt und an die Stelle von ­Toleranz (von lat. »tolerare« – »ertragen«) Verbundenheit – eben »ewige« – setzt.

Zwar waren wir mit dieser spezifischen Interpretation von intentio­naler (= absichtsvoller) Gemeinschaft eher Außenseiter auf der weiten Flur der dama­ligen »neuen sozialen Bewegungen«, doch folgten wir einem Beziehung stiftenden Geist der Zeit, der sich schon bald nach dem Krieg in manchen Ideen zeigte, allen voran in der gewaltigen Vision, ein einiges Europa zu schaffen: Im EWG-Vertrag von 1957 beschwor der allererste Satz den »festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen ­Völker zu schaffen«. Das erlegte den Mitgliedern der Gründer-Staatengemeinschaft ebenjenen konvergenten Entscheidungsstil auf, der wohl grundsätzlich als Fundament für ein friedvolles, gedeihliches und wahrhaft enkeltaugliches Zusammenleben der Menschen von der Familie über Sippen, Nachbarschaften, Dorf- und Quartiersgemeinschaften, Städte und Regionen bis hin zu den – nun ja: »Nationen« – taugen dürfte. Der Maastrichter Vertrag, mit dem am 7. Februar 1992 die EU entstand, wiederholt dieses Bekenntnis, nämlich »den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas […] weiterzuführen«.

Eine immer engere Union? – Gemeinschaft lebt vom konvergenten Beitra­gen! Ein Syndikat egoistischer Regierungen, wo die einen die anderen zu Botmäßigkeit zwingen, die anderen den einen Sonderrechte abpressen und sich alle in peinlicher Abgrenzung gegeneinander und gegenüber Hilfesuchenden überbieten, sollte die Bezeichnung »Gemeinschaft« schamvoll meiden.

Was kümmert das Oya mit ihrem bescheidenen Blick auf Möglichkeiten des »richtigen Lebens im falschen« (Adorno)? – Lieben wir denn nicht Europa, dieses überreiche Organ unserer Planetin? Schmerzt es uns nicht im Herzen, wie mit Zäunen aller Art die Gemeinschaft der Menschen zerstört wird?!

Ein herzenswarmes Frühjahr wünscht Ihnen

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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