Ein falsches Wort ist im Umlauf: »Flüchtlingskrise«. Schmecken wir mal andere Vorwörter, die Menschen in prekärer Lage bezeichnen: Armenkrise, Altenkrise, Analphabetenkrise – nicht wahr, da stimmt etwas nicht: Nicht die Armen lösen die Krise aus, sondern unser kapitalistisches System, das über 12 Millionen Menschen in Deutschland weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens gönnt. Nicht alte Menschen lösen die Krise aus, sondern unser Gesundheits- und Sozialsystem, das den Generationenverbund geringschätzt und nun einen Mangel von 30.000 Pflegerinnen und Pflegern beklagt. Nicht die 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland lösen die Krise aus, sondern unser starres Schulsystem. Nicht die Opfer eines Missstands sind die Krise, sondern gesellschaftliche Wertefelder geraten in Krisen und produzieren Opfer. Darum sagen wir richtig: Gleichheitskrise, Pflegekrise, Bildungskrise. Wie müsste die »Flüchtlingskrise« korrekt heißen? Friedenskrise? Menschlichkeitskrise? Freiheitskrise? Oder sollten wir »Wirtschaftskrise« sagen, da gewisse Geschäfte eben nur bei Mord, Totschlag, Unterjochung und Zerstörung gut laufen?

Es geht mir um die Wirkung des Sprachgebrauchs, darum, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, um ihren Bann zu lösen. Ich sage dazu »Rumpelstilzchen-Prinzip«: Als die Königin den richtigen Namen des Ungeists aussprach, stieß das Männlein »mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wuth den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich selbst mitten entzwei.«

Der unreflektierte Sprachgebrauch im Fall der Leidtragenden von Krieg und wirtschaftlicher Niederhaltung entwürdigt nicht nur die Opfer, er bannt auch den Verstand: Wir haben Angst davor, dass uns ein paar anfängliche Wanderungsbewegungen aus dem Trott bringen könnten, aber keine Angst davor, in eine Welt zu galoppieren, die unser aller Enkelgenerationen kaum vorstellbare Bürden aufladen wird. So haben wir rechnerisch noch ein Budget von 550 Gigatonnen CO2, das wir bis 2050 allerhöchstens in die Atmosphäre blasen dürften, um die globale 2-Grad-Latte nicht zu reißen. Dann müsste von heute auf morgen Schluss sein mit dem Karbonzeitalter, komplett! Sonst kommen zwei Drittel der Menschheit aus existenzieller Not derart ins Wandern, dass über den Erhalt z.B. mitteleuropäischer Lebensstile nur gelacht werden kann. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass der gegenwärtige Weltjahresausstoß von 36 Gigatonnen CO2 sinken würde. Das Budget wird somit schon in 15 Jahren aufgezehrt sein. Wie heißen dann unsere Wörter? »Flüchtlingskrise«? »Hungerkrise«? »Durstkrise«? Oder nennen wir das dann reuevoll »Wahrnehmungskrise«, eine Krise des Homo sapiens, voll Einsicht in die wahren Ursachen der – ich weiß nicht, wie zu bewältigenden – gigantischen Herausforderungen?

Ganz offensichtlich versagt der Rumpelstilzchen-Trick, wenn der Maßstab des Problems das Fassungsvermögen des kleinen menschlichen Gehirns übersteigt. Schlechte Aussichten zur Überwindung dieser Zivilisationskrise …

Wenigstens schönes Wetter wünscht Ihnen

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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