Die Macht von Geschichten ist wirklich bemerkenswert! Früher machte ich mir gelegentlich einen Spaß daraus, auf Fragen, die mir erstaunlich vorkamen, erstaunliche Antworten zu erfinden, die der oder dem Fragenden glaubhaft erschienen. So beantwortete ich einmal die Frage, warum die Weinbergschnecken »Weinbergschnecken« hießen, so: Zwar kommen die Weinbergschnecken in Weinbergen vor, aber ihr Name beschreibt eine physiologische Besonderheit. Wenn sie im Herbst der Fortpflanzungstrieb dazu drängt, schneckeln sie sich nachts an den Reben hoch und laben sich an den reifen Beeren. Die süßen Traubentropfen wandern in einen kleinen, speziellen Magen, dessen Schleimhaut ein Enzym absondert, das den Saft rasch zu Wein vergärt. Beim Liebesspiel füttern sich die hermaphroditischen Schnecken damit gegenseitig, nicht nur, um sich zu berauschen, sondern auch, um anhand des Alkoholgehalts ihres Weintropfens das Geschlecht zu bestimmen – der höherprozentige Schneck ist dann der männliche Part in der Vereinigung. Weil also die Schnecken einen Tropfen Wein in ihrem Körper ­bergen, heißen sie eben Weinbergschnecken. Die Antwort überzeugte.

Eines Tages wurde in einer Gruppe gepetzt, dass ich hin und wieder Lügen­geschichten erzähle, worauf eine der zuhörenden Personen unbedingt ein Beispiel geboten bekommen wollte. Nach einigem Sträuben ließ ich mich überreden und erzählte die Geschichte von der Wein bergenden Schnecke – nicht ohne sie damit einzuleiten, wie erstaunlich ich es gefunden hatte, dass eine derart absurde Geschichte tatsächlich geglaubt worden war. An der Stelle, wo die Schnecke nachts im milden Mondlicht auf der Traube ankommt, fügte ich gestisch den schneckentypischen Raspelzahn ein, mit dem sie die Weinbeere anritzt, um an den süßen Saft zu gelangen. Da merkte ich, dass die zuhörende Person ganz in den Bann der Geschichte geraten war und sie als echt zu glauben begann. Vergessen war das Vorausgegangene: die ausdrückliche Aufforderung, ein Beispiel für eine Lügengeschichte zu erzählen. Mir wurde heiß – wie sollte ich mich retten? Ein Abbruch war unmöglich, denn die ganze Gruppe lauschte gespannt – die Magie des Erzählens ließ nichts anderes zu, als fortzufahren. Ich hoffte, die ganz und gar unwahrscheinliche Pointe mit dem Weintropfen, dem Alkohol und dem vom Bergen des Weins abgeleiteten Namen würde schließlich wie immer dafür sorgen, den Bann in Gelächter aufzulösen.

Vergeblich. Als ich zum Ende kam, war die Person, die eine solche Flunkerei unbedingt hatte hören wollen, fest davon überzeugt, dass ich ihr die Wahrheit erzählt hätte. Es gab keine Rettung – mein Versuch, die Person auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, ging in die Hose. Sie beschimpfte mich als gemein und warf mir vor, ihre Gutgläubigkeit ausgenützt zu haben. Auch die restliche Gruppe scheiterte daran, die Person daran zu erinnern, dass sie auf einem Beispiel für eine Lügengeschichte bestanden hatte. Ich konnte mich nicht reinwaschen. Die Verstimmung hielt an – und wenn die Person nicht gestorben ist, so lebt sie verstimmt noch heute.

Mit guten Wünschen für das nächste Jahr, herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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