Erstaunlich, wie heiß man sein eigenes Blut spürt, wenn es frisch aus geplatzten Adern über die besonders wärmeempfindliche Haut von Ober- und Unterlippe schießt. Es sind zwar höchstens 37 Grad Celsius, aber in einer Frostnacht glaubt man im ersten Moment, sich zu verbrühen – bevor einen Augenblick später die Verdunstungskälte für eine sich fast angenehm anfühlende Kühlung des nach dem jählings aus dem Dunkel herausschmetternden Einschlag einer mit einem verstärkten Einsatzhandschuh bewehrten Bundespolizistenfaust sofort anschwellenden weichen Gewebes sorgt. Der Gesichtsbereich der Nase und des Munds gilt wegen der erhöhten Nervendichte an den Übergängen von den Schleimhäuten zur Außenhaut als eine der erogenen Zonen des Menschen. Schon als Neugeborene entwickeln wir den Affekt der Zuneigung, wenn wir, verbunden mit zärtlichem Angeblicktwerden und hellen Koselauten, vorsichtig an der Nasenspitze gestupst werden. Nach abgeschlossener sexueller Reife nutzen wir Nasen und Münder als vertrauensbildende Organe, mit deren variantenreicher An- und Aufeinanderbringung wir unsere Bereitschaft zur körperlichen Vereinigung einerseits und zu gar lebenslanger Verbindung andererseits besiegeln. Bei den Kältevölkern von den Inuit bis zu den Samen, aber auch auf Südseeinseln wie Samoa oder Hawaii und bei den Maori auf Neuseeland gilt das Aneinanderreiben der Nasenspitzen als Gruß. Bei Wikipedia fand ich dazu den schönen Satz: »Die Reizung dieser Bereiche ohne entsprechendes Verlangen oder die ungeeignete Reizung kann negative Gefühle bis hin zum Schmerz hervorrufen.« Stimmt. Das Schwellen der Lippen kann eben auch Ergebnis einer friedlichen Meinungsbekundung gegen den Castor-Transport, hier den jüngsten von Karlsruhe nach Lubmin in der Nacht zum 17. Februar, sein, die von einem Polizeiaufgebot zum Schutz der obszönen Milliardengewinne des Energie-Oligopols vor dem Souverän, den freien – aber nicht an der Problem­lösung beteiligten – Bürgerinnen und Bürgern, gewaltsam beendet wurde.

Dazu unser Außenminister in einem ARD-»Brennpunkt« am 2. Februar: »Wir sind unzweideutig der Auffassung: Die Anwendung von Gewalt gegen friedliche Demonstranten, das Niederknüppeln von friedlichen Demonstrationen, das ist in keiner Weise akzeptabel.« Danke, Guido. Für die Wucht, die das Gesicht des für seine Überzeugung eintretenden Menschen empfängt, ist es egal, ob sie von der Faust eines ägyptischen Polizisten oder eines kurzgeschorenen Rambos der deutschen Bundespolizei übermittelt wird.

Stichwort Wärme: Wussten Sie, dass die Plutonium-Castoren wegen der hohen Radioaktivität der Glaskokillen in ihrem Inneren ständig gekühlt werden müssen? Wäre es nicht eine gute Idee gewesen, dem Bundesamt für Strahlenschutz einen jener top-sicheren Behälter in den Hof zu stellen und die rund 57 Kilowatt Wärmeleistung pro Stunde, statt sie in die Atmosphäre der schönen Greifswalder Boddenlandschaft zu blasen, für wenigstens die nächsten 20 000 Jahre in den Heizkreislauf des kürzlich mit dem Gütesiegel »Nachhaltiges Bauen« in der Kategorie Silber ausgezeichneten Amtsgebäudes einzuspeisen?

Nur scheinbar heiter,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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