Es ist spät geworden. Mein Besucher hat den Abend lang gewartet, während die Großfamilie palaverte. Ich hatte ihm für hinterher noch einen Schwatz bei Wein in Aussicht gestellt, denn beim Palaver sind wir strikt unter uns. Der geschützte Raum ist uns heilig.

»Na, habt ihr ein Ergebnis?« – »Hmm, die Kategorie gibt’s beim Palaver nicht.« – »Du wirkst bedrückt …« – »Ich bin nur nachdenklich. Unser Thema ist komplex. Niemand hat einen Konsens auf Anhieb erwartet.« – »Worum geht’s?« – »Um die Zukunft unseres baufälligen Kornspeichers. Jahrelang wollten wir ein Gästehaus draus machen. Ich finde das zur Sicherung unseres Gesamtprojekts unerlässlich. Aber wir können es nicht finanzieren.« – »Geld ist das Problem?« – »Nicht nur. Das Leben hier ändert sich, und niemand fühlt die Kraft für das Projekt. Einige wollen das Haus loswerden; es belastet uns. Ich kann dem aber nicht zustimmen, nicht unter den bisher vorgebrachten Argumenten.« – »Habt ihr gestritten?« – »Wir streiten uns nicht. Wir palavern …« – »??« – »Na, wir sprechen so lange über eine Herausforderung, bis wir eine gemeinsame Lösung gefunden haben.« – »Und morgen sitzt ihr wieder zusammen?« – »Unmöglich! Die Abende, an denen wir alle zu Hause sind und Zeit haben, sind rar. Das regelt sich anders.« – »Wie denn?« – »Mit Zeit und Geduld. Es gibt Palaver, die mit einem Konsens enden – einfachere Anliegen, bei denen wir schon länger die gemeinsame Richtung fühlen. Aber oft bereitet das Palaver nur den Boden, auf dem die direkt betroffenen Familienmitglieder später pragmatisch entscheiden – beim Abspülen, beim Beerenpflücken, im Auto …« – »Ihr seid eine größere Gemeinschaft – ist es nicht problematisch, wenn einzelne für alle entscheiden?« – »Da vertrauen wir auf Kompetenz und Verantwortungsgefühl der einzelnen. Was uns aber alle angeht, setzt sich anders fort. Wir haben einander zugehört; alle hatten die Chance, sich auszusprechen und liebevoll gehört zu werden. Wir sind sehr unterschiedliche Menschen. Ich zum Beispiel vertrete meine Position immer mit Leidenschaft und muss aufpassen, dass ich die anderen nicht überfahre.« – »Und heute konntest du dich nicht durchsetzen …« – »Um Gottes Willen, niemand will sich durchsetzen! Ich möchte nur mit derselben Leidenschaft, die ich aufbringe, von einer besseren Idee überzeugt werden! Ich stehe gern mit ganzer Kraft hinter einer Idee, die ich als richtig erkannt habe. Ich möchte mir auch die Ideen anderer so zu eigen machen können, dass ich sie ganz und gar mittragen kann. Wir leben hier ein Leben voller Anstrengungen, und keiner von uns könnte etwas verwirklichen, wenn es nicht von allen aus vollem Herzen befeuert würde.« – »Und das ist hier nicht der Fall …« – »Ja. Ich weiß noch nicht, wohin sich das Haus-Projekt entwickelt. Klar ist nur: Ein Gästehaus wird der Kornspeicher nicht. Der Plan ist aber nur das eine. Es wurde deutlich, dass sich bei einigen das Lebensgefühl wandelt und nach einer viel umfassenderen Entwicklung verlangt als nur nach Änderung eines Bauplans.« – »Ein tieferer Konflikt also?« – »Ein Konflikt beweist, dass wir gemeinsam am Selben interessiert sind, und zwar brennend – sonst wäre uns die Sache gleichgültig. Die Frage ist also nicht so sehr, was wir nun mit dem Haus anstellen. Die Frage ist, ob wir – mich eingeschlossen! – begreifen können, dass uns das gemeinsame Interesse am Selben zusammenführt, und nicht trennt. Können wir für wahr nehmen, dass die Welt wenigstens drei Dimensionen hat, dass sie einen Raum bietet, in dem wir nicht nur zweidimensional hin oder her denken und uns blockieren müssen? Dass sie uns einlädt, uns einander beflügelnd zu erheben und gemeinsam Hindernisse zu übertanzen? Können wir durch den Wechsel der Perspektiven unsere Zuneigung zueinander vertiefen – in Klarheit, ohne Verbundenheit mit künstlichem Honig zu verwechseln?« – »Eine schwierige Aufgabe …« – »Ja. Aber sind wir angetreten, um es uns leicht zu machen?« – »Prost, mein Lieber! Ich werde ja morgen hören, wie es die anderen sehen.«

Erschienen in Oya Ausgabe 22 (2013)