Die Idee der Solidarität scheint in der die Welt beherrschenden Wirtschaft keinen Platz zu haben. Doch es gibt positive Beispiele. So setzt die GLS Bank mit der »Schenkgemeinschaft« auf ein solidarisches Finanzierungsmodell, Pionierinnen und Pioniere aus Praxis und Politik veröffentlichen und beraten zum Thema. Das Oya-Gespräch mit der Betriebswirtin Elisabeth Voß, dem EU-Parlamentarier Sven Giegold, dem Ökoforf-Gründer Dieter Halbach und dem GLS-Banker Werner Landwehr kreist um die Frage, wie solidarische Ökonomie zur Bewegung werden kann.

Johannes Heimrath: Ein sozialer Unternehmer, unser Freund Frank Wilhelmi, sagte kürzlich im Interview, er stelle sich Wirtschaft wie einen großen Esstisch vor. Wenn man sich die Welt betrachtet, sitzen jedoch am längeren Ende des Tischs die meisten Leute und haben kaum etwas bis gar nichts auf ihrem Teller, während ein paar wenige am oberen Tischende prassen, bis sie nicht mehr können. Das könne man doch nicht Ökonomie nennen.

Viele Menschen suchen Auswege aus dieser Misere, und ein Weg, über den ich heute mit euch und Ihnen sprechen möchte, sind solidarische Formen des Wirtschaftens, bei denen nicht die Gewinnmaximierung, sondern die Kooperation zwischen allen Beteiligten – idealerweise als gleichberechtigte Partner – im Vordergrund steht. Wollen wir uns einen Moment lang die letzten Gespräche, die wir mit Menschen zum Thema Wirtschaft geführt hatten, vergegenwärtigen? Worum ging es dabei?

Dieter Halbach: Ich wohne im Ökodorf Sieben Linden, und Ökonomie war dort heute Morgen das Thema in einem Kurs, den Menschen besuchen, die ins Ökodorf ziehen möchten. Dabei geht es auch um die Frage nach der Ökonomie. Wer in Sieben Linden einsteigt, beteiligt sich an unseren Genossenschaften. Das Geld muss man nicht gleich in der Tasche haben, aber auf die eine oder andere Weise doch einbringen. Der Kurs dient auch dazu, Bewusstsein für die Notwendigkeit zum Unternehmertum zu schaffen. Wenn man sich seine eigene ökonomische Lebensgrundlage schaffen möchte, auch im gemeinschaftlichen Zusammenhang, muss man gewisse romantische Vorstellungen loslassen und Mit-Unternehmer in einem Lebensprojekt werden.

Sven Giegold: Ich spreche eigentlich jeden Tag über Wirtschaft. Gerade komme ich direkt aus Ecuador zurück, dort leben große Teile der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig verfügt Ecuador über sehr viele Ressourcen, sehr viel Öl. Am meisten bewegt hat mich während meiner Gespräche in Ecuador das Angebot, das dieses wirklich arme Land der Weltgemeinschaft macht: Es will auf 20 Prozent der Ausbeutung seiner Öl-Ressourcen verzichten, und zwar im Yasuni-Gebiet, einer der Regionen mit der größten Biodiversität weltweit. Dort leben drei Volksstämme, die bewusst keinen Kontakt mit dem, was wir Zivilisation nennen, möchten. Ecuador sagt, im Gegenzug solle die Weltgemeinschaft 50 Prozent des verlorenen Gewinns, 3,5 Milliarden Dollar, finanzieren. Dieses Angebot ist für mich ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, was Politik und internationale Solidarität bewirken können.

Werner Landwehr: In meinen täglichen Begegnungen in Bezug auf Wirtschaft habe ich natürlich vor allem mit dem Thema Geld zu tun. Ich beobachte, wie Menschen Krisen erleben, die vom Finanzsektor angestoßen wurden, hinter denen aber so komplizierte Mechanismen stehen, dass sie nicht verstehbar sind. Kürzlich rief mich eine vermögende Kundin an, die Geld für einen Wohnungskauf auf ein GLS-Tagesgeldkonto legen wollte. Sie hat ein Problem damit, dass sie von uns nur 1,1 Prozent Zinsen dafür bekommt, weniger als von ihrer bisherigen Bank. Leider kam es in diesem Fall nicht zu einem fruchtbaren Gespräch – ich hätte eigentlich fragen müssen: »Haben Sie schon einmal nachgedacht, woher der Zins kommt, wer ihn erwirtschaftet?« Wenn ich von einer Geldanlage eine Rendite erwarte und mir sage: woher sie kommt, ist egal, dann ist das so, als ob ich sage: Strom kommt aus der Steckdose, und von Atomkraftwerken hab ich noch nie gehört.

Elisabeth Voß: Ich berate viele genossenschaftlich organisierte Projekte, bei denen es um die Notwendigkeit geht, Geld aufzutreiben, um etwas bewegen zu können, vor allem bei Haus- und Immobilienprojekten. Da geht es meist um ziemlich viel Geld, was auch ein Ausgrenzungsfaktor ist. Weil die Projekte einen sozialen Anspruch haben, wird überlegt, wie sich auch Menschen, die im Moment nicht so viel in der Tasche haben, trotzdem einbringen können, sei es durch Arbeit oder Ratenzahlungen. Im Grund finde ich es bitter, dass die solidarische Ökonomie auch den Markt-Mechanismen unterliegt. Doch wie immer ist für das Gelingen eines Projekts auch hier entscheidend, ob die Beziehungen zwischen den Beteiligten tragen. Eine stabile Gruppe kriegt auch ihre Finanzierung hin. Wenn alle einander vertrauen und gute Regeln gefunden haben, dann lässt sich auch solidarisch mit Geld hantieren.

JH: Sind für euch Wirtschaft und Geld zwingend gekoppelt?

EV: Nein, für mich bedeutet Wirtschaft den Umgang mit Ressourcen – aus Ressourcen gemeinsam mit anderen etwas zu gestalten, das man zum Leben braucht.

DH: Wir sind ja ein Selbstversorger-Projekt, und da denkt jeder erstmal: Selbstversorgung läuft ohne Geld. Dem muss ich aber widersprechen: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt ein Medium des Austauschs wie Geld dir die Freiheit, dich mit anderen flexibel zu vernetzen. Wir würden verrückt werden, wenn wir ständig mit der Möhre, die wir gerade geerntet haben, zu jemandem laufen müssten, der gerade Möhren haben will. Die Möglichkeit, auch in Gemeinschaften wie unserer, etwas abstrakter miteinander zu tauschen, ist doch sehr wichtig. Ebenso wichtig ist aber auch, dass man die Bereiche der Ökonomie, die ohne Geld funktionieren, entwickelt.

WL: Der ursprüngliche Wirtschaftsakt ist doch eigentlich der: Jemand stellt etwas her, das ein anderer gebrauchen kann. Das ist die Urgeste der Wirtschaft. Ich mache etwas, um den Bedarf eines anderen zu befrieden. Das ist auch der Fall, wenn ich mein Kind füttere, und dann muss zwischen uns bestimmt nichts mit Geld passieren. Der reine Produktionsprozess bedingt nicht aus sich heraus Geld, aber ein Tauschmittel schafft eben Freiheit. Der doppelte Bedürfniszufall »nackter Bauer trifft hungrigen Schneider« kommt selten vor. Dieser Aspekt der Freiheit ist so bedeutend, dass ich denke, Wirtschaft hat immer mit Geld zu tun. Allerdings ist es eine spannende Übung, sich vorzustellen: Was ist, wenn mir morgen niemand mehr für Geld etwas gibt?

SG: Bisher gibt es keine gute Antwort darauf, wie man Wirtschaft jenseits von Geld organisieren könnte oder sollte. Das Grundproblem ist ja Folgendes: Manche wollen so, andere lieber anders arbeiten. Manche möchten jetzt arbeiten, andere später. Es geht ja nicht nur um Möhre oder Hemd, sondern auch um unterschiedliche Lebensphasen – ist man gerade in einer Phase mit starker oder weniger starker Produktivität? Die Utopien, die ohne Geld auskommen, haben entweder die Vorstellung, dass man alles in kleinen Gemeinschaften organisiert – aber es gibt viele Leute, die so nicht leben wollen –, oder sie glauben, dass man übergeordnet die Bedürfnisse aller organisieren könnte. Das hat etwas tendenziell Totalitäres. Auf der anderen Seite wird es auch totalitär, wenn manche Menschen kein Geld haben, und das erleben sie zu Recht als extrem unfrei.

WL: Am Beispiel von Bildung kann man etwas Elementares von Geld und Wirtschaft verstehen: Wird Geld in Bildung gesteckt, geht es dort zunächst unter. Im Idealfall wird jede Menge Geld für schöne Schulen, gute Lehrer und ein Umfeld, in dem Kinder aufblühen können, ausgegeben. Dann wachsen die Kinder auf, werden unternehmerisch und zetteln irgendetwas in der Welt an. Davon können wir wieder profitieren. Auch das zeigt eine Urgeste der Wirtschaft: Ich gebe etwas weg, tue etwas für den anderen, mit dem Erfolg, dass es mir bessergeht.

JH: Haben wir überhaupt ein Bildungssystem, das vorwegnehmen kann, in welcher Welt wir in zwölf Jahren, wenn die jetzt »eingeschulten« Kinder erwachsen sind, leben werden? Um eine heute angemessene Schule zu entwickeln, bräuchten wir doch eine Perspektive für die Zeit in zwölf Jahren, oder nicht? Man sagt so leicht, »das und das muss geändert werden«. Wie aber ändern wir etwas hier und jetzt ganz konkret?

WL: Am wichtigsten scheint mir, Menschen zu ermutigen, das, was sie wichtig finden, einfach in die Tat umzusetzen. Irgendwann entstehen dann Massenphänomene. Seit vier oder fünf Jahren ist es in Berlin zum Beispiel trendig geworden, Fahrrad zu fahren. Solche Prozesse sind wichtig. Wenn man weg will von den hässlichen Häusern, die Spekulanten in diese Stadt setzen, dann möchte ich sagen: Bitte, tut euch zusammen und baut die Häuser selbst! Wenn man es wirklich will, werden sich Wege finden lassen.

JH: Würden solche Projekte von der GLS Bank Geld bekommen?

WL: Ja, selbstverständlich. Wir wollen alles, was wirklich sinnvoll ist, finanzieren. Unser Problem ist nicht, Leute zu finden, die für sinnvolle Projekte Geld geben wollen. Gerade in der jetzigen Situation zeigt sich das. Unser Problem – und das Problem von ethischen Banken allgemein – ist, sinnvolle Verwendung zu finden! Das Geld würde einer Bewegung eigenständig unternehmerischer Menschen, die gemeinsam etwas Sinnvolles tun, sofort folgen.

EV: Ja, es liegt an den Menschen, die etwas umsetzen. Es gibt so viele, die gute Ideen haben, aber zu wenige bringen die Qualifikation und Möglichkeit mit, sie umzusetzen. Einerseits brauchen wir eine Praxis, in der selbstverwaltete Wirtschaft ausprobiert wird, und andererseits politische Initiativen, die dafür einen förderlichen Rahmen schaffen. Apropos Fahrradfahren und Verkehr: In Berlin gibt es eine Initiative für einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr. Auch das gehört zur solidarischen Ökonomie.

SG: Wie kann sich Wirtschaft ändern? Ist der Einzelne gefragt, oder sind es die größeren Zusammenhänge? Bei solidarischer Ökonomie steht sicherlich die Initiativkraft der Menschen im Vordergrund. Aber der Bereich, in dem wir die größte Umbaudynamik erleben, ist viel breiter angelegt – der Bereich der erneuerbaren Energien. Hier wird den großen Konzernen jedes Jahr wieder ein Prozent ihres Umsatzes weggenommen. Zuerst waren es wieder einzelne, die allen gezeigt haben, dass es funktioniert. Dann kam das Gesetz und dadurch eine Massenbewegung. Hunderttausende von Menschen haben heute diese Dinger auf dem Dach. Wenn Initiative massenhaft wird, kann sie offenbar so viel kulturellen Wandel erzeugen, dass dadurch ein politischer und ökonomischer Wandel folgt.

EV: Da würde ich gerne genauer hinschauen. Wenn wir grüne Hochtechnologien loben, müssen wir uns auch vergegenwärtigen, wo deren Komponenten hergestellt werden – teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen, denken wir nur an China.

SG: Ich wollte nicht sagen, dass im Bereich der erneuerbaren Energien alles gut ist. Ich bin auch nicht so naiv, zu glauben, dass sich durch eine Initiative von unten die Unrechtsverhältnisse auf dieser Welt grundlegend ändern. Es beruhigt mich auch nicht, wenn ich mir sage, dass es durch das Wirtschaftswachstum vielleicht langfristig in China besser wird; Menschenwürde bemisst sich am Hier und Jetzt und am Einzelnen. Trotzdem ist durch die erneuerbaren Energien etwas in Gang gekommen, mit einer ursprünglich verrückten, alternativen Idee trendig, zu Mainstream, mehrheitsfähig zu werden. Deshalb kann man davon kulturell lernen.

JH: Wie könnten wir die gesellschaftlichen Kräfte, die zur Veränderung bereit sind, impulsieren und ermutigen, damit sie im Bereich der selbstverwalteten Ökonomie einen ähnlich breiten Prozess anstoßen wie den für die erneuerbaren Energien?

SG: Von den in Geld gemessenen Wirtschaftsleistungen Deutschlands laufen 45 Prozent über den Staat. Die Frage müsste lauten: Wie gelingt es, dieses Geld den Aktivitäten, die lebenszerstörerisch wirken, zu entziehen – zum Beispiel der industriellen Land- und Forstwirtschaft – und stattdessen den lebensdienlichen Unternehmungen zukommen zu lassen, damit sich solidarische und ökologische Aktivitäten leichter verwirklichen lassen? Das fängt mit den Bildungsvoraussetzungen an und reicht bis in die Ebene der Rechtsformen. Deutschland hat keine vernünftige Rechtsform für Gemeinschafts-Initiativen. Die Genossenschaft funktioniert in Deutschland viel komplizierter als in anderen Ländern. All das schlagen wir als »grünen New Deal« vor. Dazu gehört auch ein solidarischer Sektor der Wirtschaft; dieser Bereich wird viel zu wenig beachtet. Immerhin 10 Prozent der Menschen arbeiten nicht im staatlichen oder privatkapitalistischen Sektor, sondern in Vereinen, Genossenschaften, Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen. Das sind 40 Millionen Arbeitsplätze in der EU, um die sich keiner kümmert.

WL: Im Kleinen passiert bereits sehr viel. Ich lebe in einem Berliner Hausprojekt, das vor vielen Jahren gegründet wurde, auch um Menschen günstige Mieten zu ermöglichen. Die Menschen, die dort leben, werden älter, viele werden nur niedrige Renten erhalten. Wir wollen jetzt auf alle Dächer Photovoltaik installieren. Wenn wir bei der Rente angekommen sind, teilen sich alle den Ertrag. Am Anfang unseres Gesprächs ging es um das Motiv der Tafel mit den vielen Hungernden und den wenigen Gesättigten. Genau das ist das Motiv der Menschen bei diesem Projekt: Es macht keinen Spaß, sich sattzuessen, wenn man dabei Nachbarn zuschaut, die hungern.

EV: Auch die Frage nach der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig. Oft wird diskutiert, dass öffentliche Güter nicht von privatwirtschaftlichen Konzernen, sondern vom Staat verwaltet werden sollen, aber unser Staat ist alles andere als partizipativ. Öffentliche Verkehrsmittel, Wasser- und Elektrizitätswerke – alles, was Menschen an Daseinsvorsorge brauchen, auch die Renten- oder Krankenversicherung, die ja formal sogar selbstverwaltet sind – gäbe es nicht Wege, das partizipativ und wirklich basisdemokratisch zu gestalten?

DH: Bisher haben wir es nicht geschafft, den ganzen Katalog an Möglichkeiten gut zu kommunizieren. Es gibt wenige Orte, an denen man Zugang zu all diesen Wegen des Engagements findet.

SV: So ein Publikationsprojekt halte ich für sinnvoll, aber wir würden auch dadurch keine Massenwirkung erzielen. Die Sache der erneuerbaren Energien ist deshalb massenwirksam, weil sie dem Prinzip folgt »ich will Geld verdienen und kann das selbst realisieren«. Das ist mit unserer Gesellschaft kompatibel. So muss es uns gelingen, auch für solidarische Wirtschaftsmodelle Formen zu finden, die an den jetzigen Zeitgeist anschlussfähig sind.

DH: Mir scheint wichtig, gezielt sinnvolle Rahmenbedingungen in einzelnen Bereichen zu schaffen: Was wären unterstützende Bedingungen für den Wohnungsbau, für Schulen, für Arbeitslose? Wie sieht es mit einem Grundeinkommen aus, möglichst gekoppelt mit aktivierenden kommunalen Foren zur Gemeinschaftsbildung und gemeinwohlorientierter Arbeit? Mir fällt der Vorschlag von Christoph Zöpel vom Bundesverein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens ein: Das Arbeitsamt sollte Wir-eGs fördern statt nur Selbständigkeit, was früher Ich-AG hieß. Vor allem denke ich an Ausbildungen für Kommunikation, Kooperation und Eigeninitiative. Ich hoffe, dass ihr in der Politik da dran seid, im Institut Solidarische Moderne und in den Europäischen Foren in Brüssel.

EV: Für die Gründung von Energie-Genossenschaften gibt es das bereits. Die Ausbildungsgänge haben regen Zulauf. Ähnliches könnte auch in anderen Bereichen entstehen. Man kann keine solidarische Ökonomie predigen im Sinn von »ihr müsst verzichten«, sondern wir müssen zeigen: »So kann man gemeinsam für ein gutes Leben arbeiten.« Gesetzt den Fall, es gäbe eine Massenbewegung von Menschen, die sagen »wir wollen selbstbestimmt wirtschaften«, dann kämen sie an den Punkt, sich Ressourcen aneignen zu müssen, sei es Land für die Selbstversorgung oder ein Wasserwerk – dann wäre es auch eine politische Bewegung.

SG: Würden die Menschen die Lebensqualität in solidarischen Unternehmungen als so viel höher erleben als in der Vereinzelung, wäre die Massenbewegung wohl längst da. Aber die Menschen fürchten sich und sagen: »Wir haben das nicht gelernt, wir haben soziale Probleme« – und dann finden sie Gemeinschaft nicht so toll.

WL: Auch die Bewegung hin zu einem ethischen Bankwesen ist noch lange keine Massenbewegung. Die Menschen müssten die Banken mit der Frage bedrängen: »Woher kommen diese Zinsen? Die werden bei euch doch nicht im Tresor gebacken!«

SG: Man kann aber nicht nur auf die Initiative der »Guten« setzen. Wenn verantwortliche Menschen sich nicht gemeinwohlfreundlich verhalten, muss man sie letztlich zwingen. Wer Land hat, muss aufhören, damit in unverantwortlicher Weise umzugehen.

EV: Zwang kann man gegenüber denen anwenden, die wirklich Macht oder Stärke haben, aber gegenüber Einzelnen würde ich immer auf Demokratie setzen. Wird Massentierhaltung verboten, brauche ich den Menschen nicht mehr zu verbieten, zu viel Fleisch zu essen. Wie lassen sich emanzipatorische Prozesse so in die Wege leiten, dass Menschen zu guten Entscheidungen befähigt werden?

DH: Ich stimme euch zu, wir brauchen verpflichtende Elemente, und zugleich wollen wir kein neues Zwangssystem. Ich spüre, wie im Moment eine große Anziehungskraft z. B. von unserem Ökodorf-Projekt ausgeht – Medien und Wissenschaftler überrollen uns förmlich. Viele unterschiedlichste Menschen kommen zu uns, und wir kommen kaum noch hinterher, all diese Bedürfnisse nach Erfahrungsaustausch und nach Ausbildung zu befriedigen.

JH: Wenn die Einzelnen etwas verbindet, entsteht eine Vision. Wir können helfen, diese Vision zu entwickeln. Lasst uns das tun – auf allen Ebenen, von der Graswurzel über die Bank bis ganz oben.

Sven Giegold (40) studierte Politik und Ökonomie. Er gehört zu den Gründern von attac Deutschland und der europäischen attac-Koordination. Seit 2008 ist er Mitglied der Grünen/Bündnis 90 und wurde 2009 ins Europäische Parlament gewählt. Dort ist er Koordinator der Fraktion Grüne/EFA im Wirtschafts- und Währungsausschuss. Er ist Mitbegründer des Instituts Solidarische Moderne.
www.sven-giegold.de

Dieter Halbach (57) gehört zur Oya-Redaktion. Zuvor betreute er die Rubrik »eurotopia« in der Zeitschrift KursKontakte. 1990 war er Mitbegründer des Ökodorfs Sieben Linden, später auch des »Come together«-Netzwerks der deutschen Gemeinschaften und der Initiative »Aufbruch – anders besser leben«. Er gibt Seminare und Beratungen zum Gemeinschaftsaufbau.
www.siebenlinden.de, www.gemeinschaftsberatung.de

Werner Landwehr (56) ist Diplom-Bankbetriebswirt und arbeitet seit 1995 bei der GLS Bank. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Kreditgeschäft und die Umsetzung nachhaltiger Finanzierungen. Von 2001 bis 2003 war er als Marktbereichsleiter für die Integration der Frankfurter Ökobank in die GLS Bank zuständig. Anfang 2008 übernahm er den Aufbau der GLS-Filiale in Berlin und leitet deren Hauptstadtbüro bis heute.
www.gls.de

Elisabeth Voß (55) arbeitet als Betriebswirtin und Publizistin in Berlin zu den Themen solidarische Ökonomie, genossenschaftliche Unternehmungen, Hausprojekte, Selbstorganisation und Kommunikation. Sie ist seit über 20 Jahren Redaktionsmitglied der »Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation«. Im Frühjahr 2010 veröffentlichte sie den »Wegweiser Solidarische Ökonomie ¡Anders Wirtschaften ist möglich!«, AG SPAK Verlag.
www.contraste.org, www.solioeko.de

Erschienen in Oya Ausgabe 3 (2010)

Das vollständige Gespräch im Video verfolgen: