Zum Oya-Gespräch war eine Sozialwissenschaftlerin, eine Journalistin und ein Aktivist zu einer Improvisation über das Stichwort »Selbstermächtigung« mit Oya-Herausgeber Johannes Heimrath eingeladen. Welche Bedeutung hat heute das Gefühl, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen?

Johannes Heimrath: Herzlichen Dank an Michael Günther vom AT‑Verlag, dass wir sein Münchener Atelier für unser Gespräch nutzen dürfen. Heute ist es hochsommerlich heiß, deshalb sitzen wir hier barfüßig und schwitzen. Das Thema, das wir uns vorgenommen haben, heißt »Selbstermächtigung«. Im heutigen Sprachgebrauch verwendet man eher den englischen Begriff »Self-Empowerment«, das deutsche Wort ist doch recht sperrig.

Wir nähern uns diesem Thema von unterschiedlichen Hintergründen aus: Roman Huber ist Aktivist in verschiedenen Bürgerbewegungen, vor allem im Verein »Mehr Demokratie«. Andrea Baier ist Soziologin, sie arbeitet in der Stiftungsgemeinschaft »anstiftung & ertomis«, die Projekte im Bereich Selbstversorgung und Eigenarbeit fördert. Petra Steinberger als Autorin und Redakteurin der »Süddeutschen Zeitung« beobachtet und dokumentiert gesellschaftliche Prozesse. Bevor wir ins Thema einsteigen, würde ich gerne von allen eine kleine Geschichte hören: Welches Ereignis in eurem Leben resoniert am meisten mit dem Gefühl von Empowerment?

Petra Steinberger: Mir fällt ein Ereignis aus dem Jahr 2002 ein. Ich wollte mit Kollegen meiner Zeitschrift in den Irak fliegen. Am Flughafen erreichte uns die Nachricht der Chefredaktion: »Nein, es wird nicht geflogen, die Reise ist zu gefährlich.« Ich war verzweifelt, aber schließlich habe ich mich auf eigene Faust ins Flugzeug gesetzt, ohne jemanden zu fragen. Einen Artikel über die Reise konnte ich freilich nicht veröffentlichen, aber persönlich hat mir dieser Schritt sehr viel gebracht. Ich dachte, wenn ich jetzt nicht fliege, tue ich das nie mehr, vielleicht werde ich dann nie mehr etwas tun, das nicht der Norm entspricht.

Andrea Baier: Bei Selbstermächtigung denke ich mehr an alltägliche Situationen. Wenn wir in der Stiftungsgemeinschaft Subsistenz als Alternative zur fremdbestimmten Erwerbsarbeit fördern, geht es um den Bereich des Alltags. Es geht um die Dinge, die Menschen dort selbst herstellen und organisieren, ohne dass sie wahrnehmen, dass das etwas Besonderes ist. Persönlich habe ich im Zusammenhang mit der Frauenbewegung solche Erfahrungen von Selbstermächtigung gemacht.

Roman Huber: Ich hatte jetzt Zeit, nachzudenken, bin in meiner Biografie Stück für Stück bis zu einem Punkt zurückgegangen, an dem ich 16 Jahre alt war. Ich erinnere mich, plötzlich von dem Gefühl ergriffen zu sein: »Das war jetzt ein Gedanke, den ich selbst gedacht habe.« Man denkt ja viel hin und her, aber dieser Gedanke, den ich im Detail gar nicht mehr weiß, war anders. Ich wusste: Das hast du jetzt nicht nachgeplappert oder nachgelesen, sondern eigenständig aus dir hervorgebracht. Aus diesem Erlebnis konnte ich viel Kraft schöpfen. Erst durch diese Abgrenzung des unabhängigen Denkens lässt sich wieder mit anderen in Verbindung treten. Das finde ich das Interessante am Prinzip Selbstermächtigung: Je unabhängiger ich innerlich werde, desto mehr kann ich auf andere zugehen, desto mehr Zusprache erhalte ich auch von außen.

PS: Oft wird Selbstermächtigung mit Eigensinn, Egomanie, Egoismus oder Egozentrik verwechselt, aber das trifft nicht zu. Ich glaube, wir denken oft, wer sich selbst ermächtigt, muss ein bisschen rücksichtslos sein. Es mag manchmal dorthin umschlagen, wenn man es übertreibt, und deshalb fürchten wir uns davor.

JH: Für mich übersetze ich Selbstermächtigung so: Ich bringe mich selbst in die Position, aus der ich machtvoll handeln kann. Dabei stellt sich die Frage, warum ich das überhaupt tun muss. Offenbar muss ich einen Zustand von Machtlosigkeit oder minderer Macht durchbrechen. Weshalb ist das notwendig? Liegt es daran, dass wir als junge Menschen durch Schule und Erziehung so viel hierarchischer Macht ausgesetzt sind, dass wir uns nicht mehr als selbstbestimmte Wesen wahrnehmen?

AB: Das Problem liegt darin, dass wir in allen nur denkbaren Lebenssituationen zu Konsumentinnen und Konsumenten geworden sind; auch in der Schule wird der Unterrichtsstoff konsumiert. Also brauchen wir einen Gegenbegriff und eine Gegenbewegung – die Dinge selbst in die Hand nehmen, selbst für sein Leben sorgen.

PS: Andererseits: Die Gesellschaft hat Regeln, und jeder muss von seinen Wünschen auch Abstriche machen, damit Gemeinsamkeit gelingt, wir sind eben Gesellschaftsmenschen. Wo habe ich das Recht, ganz nach meinem Interesse zu handeln, und wo muss ich zurückstecken, damit das große Ganze funktioniert? Ich frage mich, wo hier die Grenze verläuft. Entmächtige ich womöglich einen anderen, wenn ich mich selbst ermächtige?

RH: Nein, das glaube ich nicht. Je mehr ein Mensch selbst ermächtigt ist, desto einfacher kann sie oder er auch wieder bescheiden sein. Denn das nur Dienende, sich in eine Gesellschaft einzubringen, hat ja nichts mit Aufopferung zu tun.

PS: Das meinte ich auch nicht, ich frage nur nach der Grenze, ab der sich der Blick zu stark auf mich selbst richtet und ich den anderen nicht mehr sehe.

JH: Zur Schattenseite der Selbstermächtigung fällt mir das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten ein. Vielleicht haben wir im Deutschen deshalb mit dem Begriff »Ermächtigung« Schwierigkeiten, und wir müssen zuerst an der Auflösung dieses Schattens arbeiten. Damit Ermächtigung nicht ins Negative kippt, muss es wohl immer mit einem »Für« statt mit einem »Gegen« verbunden werden. Ich tue nichts gegen einen anderen, sondern ich tue es für mich, oder wir tun es gemeinsam für die Zukunft.

Zur Zeit sehe ich viele Anliegen, die dringend einer, ich sage mal: machtvollen Handlung dieser Zivilgesellschaft bedürften. Aber die Menschen haben nur wenige Ausdrucksformen, wirkmächtig zu handeln. Der Volksentscheid ist so eine Form. Demjenigen, der soeben das Rauchverbot in Bayern durchgesetzt hat, ist ja wirklich etwas Erstaunliches gelungen.

AB: Und derjenige, der die Bildungsreform in Hamburg gekippt hat, ist eine Katastrophe …

JH: Die Ergebnisse will ich nicht werten, aber dass das Werkzeug Volksentscheid so aktiv genutzt wird, finde ich ermutigend.

AB: Obwohl wir über diese und andere demokratische Werkzeuge verfügen, setzen die Menschen in der heutigen Situation den ökologischen und sozialen Krisen ziemlich wenig entgegen. Woran mag das liegen? Im Grund genommen steht eine Infragestellung des gesamten Lebensstils an. Andererseits gibt es durchaus Menschen, die sagen, sie möchten nicht mehr mitmachen und etwas verändern, sie starten eine Stadtteil-Initiative oder richten einen interkulturellen Garten ein. Mich interessiert, was diese Menschen antreibt.

JH: Solche Menschen sind meiner Beobachtung nach selten Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, sondern sie tun sich mit »Gleichstrebenden« zusammen. Ich sage bewusst nicht »Gleichgesinnten«. Viel interessanter als ein Haufen Gleichgesinnter ist doch eine Gemeinschaft der Ungleichgesinnten. Gelingt es ihnen, trotz unterschiedlicher Ansichten gut zusammenarbeiten, haben sie wirklich etwas gekonnt.

Was mir Sorgen macht: Auch wenn noch so schöne Projekte in Stadtteilen oder Regionen realisiert werden, heißt das noch nicht, dass die dort aktiven Menschen an den strategischen oder längerfristigen Entscheidungen meiner Gesellschaft mitwirken.

RH: Das Problem ist, dass wir immer noch zuviel Sattheit haben; der Leidensdruck ist nicht groß genug. Wenn ausreichend viele Menschen wollten, dass es anders wird, wäre die Welt doch in wenigen Monaten umgekrempelt! Wenn bei einem Konzern nicht mehr eingekauft wird, ändert sich die gesamte Konzernpolitik. Und wenn ein paar Millionen Leute sagen: »Wir wollen jetzt genau das«, gilt die Meinung der Parteien nicht mehr viel.

JH: Aber was motiviert die Menschen?

PS: Letztlich Gefühle, entweder Angst oder Freude.

AB: Ja, etwas schön zu finden oder etwas zu fürchten, ist ein starker Motor. Es ist schwierig, zu vermitteln, warum es Freude machen soll, zum Beispiel mit dem Autofahren aufzuhören. Aber es ist gar nicht schwierig, zu vermitteln, warum es Spaß macht, mit anderen zusammen in einer Fahrradwerkstatt zu basteln. Es kann spannend sein, gemeinsam zu tüfteln, und nebenbei hat man noch CO2 gespart und dem Kapitalismus wieder ein paar Euro entzogen.

Sehr ermutigend fand ich das Buch »Marke Eigenbau«. Da geht es von Open-Source-Werkstätten für Computer oder Fahrzeuge bis zu selbstgemachter Mode oder Kompost-Toiletten, das heißt um neue, moderne Formen von Eigenarbeit.

RH: Das Selbermachen ist ein wichtiger Bereich, und so könnten wir viele weitere betrachten, sei es Energie, Geld, Umwelt, Wirtschaft oder Politik. Überall finden sich positive Errungenschaften – aber was meinem Gefühl nach fehlt, ist der nächste Quantensprung. Damit sich wirklich etwas ändert, brauchen wir eine grundlegende Änderung im Menschenbild. Wir stecken in einer tief materialistischen Weltsicht, oft ohne es zu merken.

Erst wenn du den Menschen auch als spirituelles Wesen statt als graue Gehirnsubstanz begreifst, entwickelt sich zum Beispiel eine andere Medizin, ein anderes Verständnis von Umwelt, von Miteinander …

PS: Da ist sie wieder, die altbekannte Frage: Kommt zuerst der Wandel, und ändert sich dann das Bewusstsein, oder umgekehrt? Oder geht beides zusammen? Ich frage mich im Moment vor allem: Geht es schnell genug? Die Klimakrise, die Energiekrise – schaffen wir den notwendigen Bewusstseinswandel rechtzeitig? Und wenn nicht, was dann?

JH: Wenn ich deine Texte in der »Süddeutschen« lese, zum Beispiel die Kritik am Landkauf von Regierungen und Konzernen in südlichen Ländern, dann scheint mir, du schreibst mit aller Kraft gegen diese Krisen an, du klärst auf und scheinst noch nicht aufgegeben zu haben, dass ein Bewusstseinswandel möglich ist.

PS: Nein, natürlich nicht. Egal, was passiert, man kann immer trotzdem etwas tun. »Trotzdem« – das ist für mich die Antwort.

Andererseits: Ich bin genau der Mensch, den ich verdamme. Ich bin auch mit dem Auto hierhergekommen.

Mein Anliegen als Journalistin ist vor allem, dass die Leute gewisse Illusionen loswerden. Ich sage: Wie schön, dass es die LOHAS gibt und so viel über grünen Konsum diskutiert wird. Ich finde jede Stadtteil-Initiative toll und finde es grandios, wenn jemand nicht mehr Flugzeug fliegt. Aber: Letztlich steht trotz alledem die gesamte Gesellschaft auf tönernen Füßen, und das können wir nicht ändern. Denn selbst, wenn ich nicht mehr Auto fahre und im Winter nur noch Kartoffeln esse, kann ich diesem System nicht entfliehen, es sei denn, ich verschwinde als Eremitin in die Berge.

AB: Die Haltung »Trotzdem«, von der du eben gesprochen hast, scheint mir elementar wichtig. Ich möchte nicht erst warten, bis die Wirtschaft zusammenbricht, sondern zeigen, dass es trotz all dem, was wir heute erleben, Arten des Wirtschaftens gibt, die nicht nur Ressourcen verbrauchen und zerstören, sondern die für das Ganze förderlich sind. Wenn zum Beispiel Landwirtschaft richtig betrieben wird, verbessert sie den Boden. Erst seit den letzten 150 Jahren wirtschaften wir auf so unvernünftige Weise, dass er immer schlechter wird. Und viele Menschen sind bereit, anderen zu helfen und selbstlos zu kooperieren, ihre Zeit zu verausgaben, sei es in der Nachbarschaftshilfe oder der Hauswirtschaft. Dass Menschen nach all den Traumata, die ihnen im Lauf der Geschichte zugefügt wurden, immer noch auch selbstlos handeln können, ist fast ein Wunder. Trotz allem gibt es immer wieder Leute, die helfen und sich verantwortlich fühlen. Das finde ich ermutigend.

RH: Da sind wir wieder beim Thema »Menschenbild«. Ich erlebe, wie heute immer mehr Menschen ihr Leben ändern wollen. Manchmal habe ich Beratungsaufträge bei einem der größten Hersteller für Computerchips. Die Leute dort verdienen das Zehnfache von dem, was ich verdiene, und anfangs heißt es in den Gesprächen immer »mein Auto, mein Schiff, meine Frau …«. Aber am Ende der Woche, die wir gemeinsam gearbeitet haben, kommen sie und klagen über das Gefühl, sich als Teil einer riesigen Maschine zu fühlen und als Menschen nicht mehr gesehen zu werden. Keiner sagt zu ihnen: »Danke, dass du da bist.« Wenn ich sie dann frage, was sie interessiert, wofür sie innerlich brennen, kommt ein dynamischer Prozess in Gang. Es passiert so viel, wenn Menschen wieder mit sich selbst in Kontakt kommen.

PS: Müssen diese Leute dann aussteigen, oder können sie innerhalb des Unternehmens etwas ändern?

RH: Begrenzt. Die Hierarchien im Unternehmen sind schon viel flacher geworden, aber das Unternehmensziel ist immer noch die beinharte Maxime der Gewinnmaximierung – genau da müsste man ansetzen, denn das ist der Tod aller reformerischen Bemühungen.

JH: Frithjof Bergmann sagt immer: Die meisten Menschen empfinden Arbeit als eine milde Krankheit. Die Arbeit ist nicht schön, aber sie ist auch nicht so schrecklich, dass man alles hinwirft. Das ist für mich ein unbegreiflicher Zustand. Arbeit müsste doch dazu dienen, dass man intensiver lebt und schöpferisch ist. Viele Menschen spüren, was ihre Bestimmung wäre, aber sie bleiben beim »Man sollte« oder »Man könnte«. Es lässt sich nur schwer sagen, was manche schließlich dazu bringt, den Absprung zu wagen …

RH: Für mich war es 1994 plötzlich klar, dass ich meinen Job kündige und mich hauptamtlich dafür einsetzen werde, dass es einmal auf allen politischen Ebenen Volksentscheide gibt. Mit einem bundesweiten Volksentscheid könnten wir die Rahmenbedingungen ändern, deshalb ist dieser Ansatzpunkt für mich der Wichtigste. Selbstverständlich ist auch die Mikro-Ebene wichtig: Wo kannst du im Kleinen, im Alltag Alternativen schaffen?

AB: Eine wichtige Frage in unserer Stiftung ist immer: Wie schaffen wir eine Anerkennungskultur, wie machen wir die kleinen, guten Dinge sichtbar? Wenn sich zum Beispiel eine Bäuerin auf einem Hof, der industrielle Landwirtschaft betreibt, von ihrer Familie anhören muss, dass es Unfug ist, wenn sie noch Hühner hält, weil sie im Supermarkt billiger seien, dann wirkt das entmutigend. Sie braucht Anerkennung, dass sie etwas tut, das wichtig für das Dorf ist, für die sozialen Beziehungen, für die Schönheit des Hofs.

Inzwischen erlebe ich es wieder viel mehr, dass Menschen Experimente wagen, vielleicht ein selbstverwaltetes Projekt aufbauen, statt sich auf den nächsten Lohnarbeitsplatz zu stürzen. In den letzten zehn Jahren gab es wenig Bewegung in dieser Richtung, aber jetzt ist ein neuer Schwung spürbar. Die Menschen wollen sich auf sich selbst verlassen, auf ihre Peergroup und auf die Familie oder die Wahlfamilie. Der Familienbegriff hat sich geweitet. Mit Familie verbinden viele nicht mehr die Enge der bürgerlichen Kleinfamilie, sondern eine Ressource, auf die sie zurückgreifen können.

PS: Im Münchener Wohnungsbau kann ich einen solchen Trend nicht erkennen, nur noch Wohnungen für Einzelne werden gebaut.

AB: Aber gegen genau diese Vereinzelung richtet sich auch eine Gegenbewegung …

PS: In der Geschichte haben sich immer wieder kleine Bewegungen durchgesetzt und etwas zum Besseren gewendet. Am Anfang einer gesellschaftlichen Veränderung stand oft nur eine kleine Gruppe, aber sie setzte sich auf irgendeine Weise durch, weil sie eine Aussage hatte, die zum jeweiligen Zeitpunkt schlichtweg wichtig war und schließlich von einer Mehrheit angenommen wurde.

JH: Mir scheint, der wichtigste Schritt besteht darin, dass sich die Leute zusammentun. Vielleicht geht es darum, diesen Trend zu unterstützen?

AB: Das »Haus der Eigenarbeit« in München, ein frühes Projekt der »anstiftung«, ist zum Beispiel genauso gemeint: Dort trifft man sich mit anderen, um etwas selber herzustellen, so wie man sich früher am Dorfbrunnen getroffen hat. Wir brauchen solche Orte, wo man sich austauscht, sich auch gegenseitig hilft oder Anregungen gibt. Dann wird deutlich, dass das Prinzip »ich befähige mich selbst« insbesondere in Kooperation mit anderen funktioniert, dass das Gemeinsame gerade den Charme der Selbstermächtigung ausmacht.

RH: Ich sehe auch, dass bestimmte Veränderungen nur dann stattfinden, wenn Menschen sich zusammentun. Wenn jetzt eine neue Bewegung entsteht, wird es nicht nur entscheidend sein, in welche Richtung sich die Menschen miteinander bewegen, sondern wie sie miteinander umgehen. Wie begegne ich anderen, wie sehe ich andere, wie wird die Beziehung authentisch? Wir können nur das verändern, was wir selbst auch leben, das habe ich in meiner Arbeit bei »Mehr Demokratie« anfangs erstmal leidvoll erfahren müssen: Ich war gar nicht von vornherein ein Demokrat! Wenn ich mich für eine Sache einsetze, komme ich schnell an meine autokratischen Züge. Wenn ich überlege, wie lange ich brauche, um bei mir selbst etwas zu ändern – dauert es dann Jahrzehnte, bis sich gesellschaftlich etwas ändert? Mein Gefühl ist, dass es auch schneller gehen könnte, wenn Menschen an bestimmten archimedischen Punkten klug ansetzen – aber welches sind diese Punkte?

JH: Daraus, dass wir diese Punkte nicht kennen, lässt sich auch eine Stärke entwickeln. Nämlich der Mut – ja, die Zu-Mutung, zu sagen: Wir wissen es nicht, aber lasst es uns gemeinsam herausfinden. Das zu kommunizieren, halte ich derzeit für die größte Herausforderung. – Wer weiß, wieviele Menschen im »Haus der Eigenarbeit«, beim Lesen eines Artikels von Petra Steinberger, in einer Diskussion am Infostand von »Mehr Demokratie« ein entscheidendes Aha-Erlebnis haben? Wir bewegen uns in einem komplexen Feld und können unmöglich definieren, was wir durch unsere Tätigkeit auslösen. Deshalb freue ich mich auf das weitere gemeinsame Forschen. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Andrea Baier (49): Soziologiestudium an der Universität Bielefeld, Forschungs- und Lehrtätigkeit, Mitbegründerin des Instituts für Theorie und Praxis der Subsistenz, Forschungsprojekte im Bereich nachhaltiges Wirtschaften bzw. nachhaltige Lebensstile, seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftungsgemeinschaft »anstiftung & ertomis«.

Roman Huber (44): ursprünglich im Bereich Informationstechnologie tätig, seit 18 Jahren im zivilgesellschaftlichen und humanitären Bereich aktiv. Er ist Vorstand von »Mehr Demokratie e.V.« und »Artabana Deutschland e.V.« sowie Aufrichtsrat der Gemeinschaft »Schloss Tempelhof eG«.

Petra Steinberger (44) ist Autorin bei der »Süddeutschen Zeitung am Wochenende«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Umwelt, Urbanismus, Soziologie und Bevölkerung. Sie besuchte die Deutsche Journalistenschule und studierte Politik in München und Middle Eastern Area Studies an der School of Oriental and African Studies in London.

Erschienen in Oya Ausgabe 4 (2010)

Das vollständige Gespräch im Video verfolgen: