„Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entfacht werden wollen.“ (Rabelais)

Anschreiben


An die Petitionsausschüsse der Landtage
An die Mitglieder des Deutschen Bundestags

18. September 1991

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

im Volksschulgesetz des Freistaats Bayern heißt es unter anderem, die Schule habe die Aufgabe, die jungen Menschen in unserer Gesellschaft zu „Achtung vor der Würde des Menschen, Verantwortungsfreude, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Gute, Wahre und Schöne“ zu erziehen. Gleiches gilt für alle übrigen Bundesländer. Unsere Schulen kommen diesem Auftrag sicherlich mit großem Bemühen nach. Die meisten Lehrkräfte üben ihren Beruf mit humanistischem Ethos aus und nehmen ihre Verantwortung ernst. Unsere Schulen sind kostspielig ausgestattet, Lehrpläne und Unterrichtsmethoden werden stetig verbessert, um den Erfordernissen der Gegenwart zu entsprechen.

Soweit scheint alles in guter Ordnung zu sein.

Dennoch machen nicht wenige Eltern die Erfahrung, daß das, was so gut gemeint ist, in der Wirklichkeit nicht ganz so klappt. Gewiß werden auch Sie in Ihrer Funktion als Abgeordnete von Landtagen und Bundestag immer wieder mit der bekannten Schulproblematik konfrontiert: steigender Medikamentenmißbrauch und steigender Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung der Kinder, Zunahme von Verweigerungshaltung und Zerstörungswut, Unlust und Schulversagen. Es muß uns zu denken geben, wenn trotz aller Segnungen unseres Schulsystems jährlich rund 60.000 junge Menschen ohne Abschluß bleiben und als „Versager“ durch’s weitere Leben gehen.

Dabei könnten auch diese jungen Menschen ihr schöpferisches Potential, das sie wie alle anderen als angeborenes Gut besitzen, zum allseitigen Gewinn in unsere Gesellschaft einbringen, wenn ihnen individuelle Wege zur Entfaltung offenstünden.

Über zwei Jahre hinweg habe ich als Rechtsbeistand einem jungen Menschen in meiner Familie geholfen, seinen eigenen Weg abseits des schulischen Systems zu gehen: Er wurde in der Schule krank und weigerte sich schließlich, sie weiter zu besuchen. Anstatt sich mit Mißerfolg und drohendem Versagen zu belasten, wollte er lieber zuhause unterrichtet werden und sich frei von äußerem Zwang weiterbilden. Tilmann war damals, 1987, 9 Jahre alt. Nach zwei Jahren bestand er auf eigenen Wunsch und aus eigenem Antrieb die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium und besucht dieses seither mit Freude und Erfolg.

Die Schulbehörden verfolgten seine Eltern jedoch mit aller Härte. Während Tilmann gesundete und die Freude am Lernen wiederfand, betrieben Schul- und Jugendbehörde schließlich sogar die Entziehung des elterlichen Sorgerechts und wollten ihn in ein Heim einweisen, nur weil er sich seine Bildung anderswo als in der Schule holte!

Der Fall endete im September 1989 mit einem Freispruch – dem ersten in Deutschland. Der Amtsrichter begründete sein Urteil mit einem Zitat aus Artikel 126 der Bayerischen Verfassung: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes.“ (Aktenzeichen 2 0Wi 46 is 32069/88)

Dem Engagement für Tilmann verdanke ich ungeahnte Einblicke in die Wirklichkeit unseres Schulsystems: Entgegen den Forderungen auf dem Papier wird die Selbstbestimmtheit der Kinder und die Freiheit der Eltern sowenig geachtet, daß die Entfaltung grundlegender Bedürfnisse und Fähigkeiten verkümmert. Die Wirklichkeit der Schule, so wurde mir leider klar, ist in der Regel nicht der Humanismus, dem sie doch verpflichtet sein will, sondern das Einüben jener inhumanen Eigenschaften, die unsere „Ellenbogengesellschaft“ kennzeichnen!

Dies wird übrigens auch von vielen kompetenten Persönlichkeiten so gesehen und beklagt.

In unserer pluralistischen Gesellschaft geht es nicht länger an, daß die Bildung der jungen Menschen zu mündigen, selbstverantwortlichen und sozialen Bürgerinnen und Bürgern ausschließlich in einer zentralistisch und monopolistisch gestalteten und mit Zwang bewehrten Art und Weise vermittelt wird. Gerade in diesen Tagen sehen wir die klassischen zentralistisch verwalteten Gesellschaftssysteme zusammenbrechen. Planwirtschaft und von der Öffentlichkeit unkontrollierbare Bürokratien sind Fremdkörper in einer modernen, friedlichen und freien Welt.

Was für den gesellschaftlichen Wandel allgemein gilt, muß auch für die Schule gelten. Schließlich wachsen in ihr die Menschen heran, die fähig sein sollen, in einer modernen, freiheitlich-demokratisch gestalteten Welt gesund und erfüllt zu leben. Bürgerinnen und Bürger müssen ihre Kompetenz dort einbringen können, wo es für das Gemeinwesen förderlich ist. Wenn also z.B. Eltern oder private Initiativen, vor allem im nachbarschaftlichen Verbund, in der Lage sind, Kindern nicht nur die vom Staat geforderte Grundbildung zu ermöglichen, sondern darüber hinaus auch die soziale und emotionale Entfaltung der jungen Menschen besser zu fördern, als dies die herkömmliche Schule kann, darf dies staatlicherseits nicht verwehrt werden. Einem dem Frieden und der Freiheit verpflichteten Gemeinwesen sollte es ein elementares Anliegen sein, die Freiheit der Bildung uneingeschränkt zu garantieren!

Nehmen wir zum Vergleich unser Nachbarland Dänemark: Dort ist solches Tun nicht nur erlaubt, die private Initiative wird sogar mit großem Erfolg vom Staat gefördert. Wenn mindestens 12 Familien ihre Kinder gemeinsam unterrichten wollen, trägt der Staat die Personalkosten für die Lehrkräfte und gewährt Zuschüsse für die Sachkosten. Warum ist dies nicht auch in Deutschland möglich?

Bei uns gibt es nicht nur die Schulpflicht, sondern auch noch den Anwesenheitszwang, auf dessen Grundlage Kinder sogar gefesselt zur Schule vorgeführt und Eltern das Sorgerecht entzogen werden kann – ein Relikt aus der Gesetzgebung des Dritten Reiches (1938)! In sämtlichen europäischen Partnerländern, in Österreich, Italien, der Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Irland, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland gibt es dagegen die Freiheit, Kinder selbst zu unterrichten oder unabhängige Freie Schulen zu gründen. Ist das Vertrauen in die Fähigkeiten des Menschen und sein Grundbedürfnis nach Bildung in der Bundesrepublik Deutschland weniger ausgeprägt als bei unseren Nachbarn?

Ich halte es für dringend an der Zeit, das Thema Schule neu zu überdenken. Der Staat sollte den Mut zur privaten Initiative fördern und Vertrauen in die schöpferischen Kräfte der Menschen beweisen, die diesen Staat tragen. Menschen, die sich für eine gesunde und kreative Entfaltung unserer Kinder engagieren wollen, dürfen nicht behindert oder gar kriminalisiert werden. Es muß erlaubt sein, junge Menschen so wachsen und lernen zu lassen, wie es ihr Bedürfnis verlangt.

Im Angesicht der gegenwärtigen globalen Probleme muß eine moderne Gesellschaft das enorme schöpferische Potential ihrer Mitglieder fördern und nutzen. Damit würden gleichzeitig vom Niedergang bedrohte Binnenstrukturen wie die Familie, familienähnliche Lebensformen und eine gesunde Nachbarschaft gestärkt, die der Allgemeinheit große soziale Lasten ersparen oder abnehmen könnten.

Gedanken wie diese haben mich dazu bewogen, die Aktion »Netzwerk für Kinder« ins Leben zu rufen. Das »Netzwerk für Kinder« ist ein freier und unabhängiger Zusammenhang von Menschen, die sich dafür einsetzen, die Lebensphase »Kindheit« von der bis heute üblichen Diskriminierung zu befreien. Kinder sind vollwertige Menschen, denen die Grundrechte, die ihnen laut unserer Verfassung zustehen, endlich auch in der Praxis gewährt werden müssen.

Der Widerspruch zwischen dem Recht auf Bildung – ein Freiheitsrecht! – und der Schulpflicht, verbunden mit dem Schulzwang, verletzt das Grundrecht auf Selbstbestimmung. Mit der folgenden Petition will ich diesen Mißstand beseitigen helfen und dazu aufrufen, ein Schul- und Bildungssystem zu schaffen, das den Geboten einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft und den Bedürfnissen und Fähigkeiten der darin lebenden Menschen entspricht.

Als Abgeordnete liegt es auch in Ihren Händen, ob unser Gemeinwesen seinen Anspruch auf Humanität und Freiheit verwirklichen kann. Die Bildung unserer Bürger, allen voran unserer Kinder, ist der wichtigste Baustein zu einer schöpferischen, selbstverantwortlichen Gesellschaft. Tragen Sie also durch die Umsetzung der in dieser Petition vorgebrachten Wünsche dazu bei, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Ich bitte Sie als Mitglieder der deutschen Landtage und des Bundestags, durch entsprechende Änderungen vorhandener Gesetze dafür Sorge zu tragen, daß die geforderten fünf Punkte alsbald Rechtswirklichkeit in unserem Staat werden.

Petition


Forderung 1

Alle Menschen haben das Recht auf Bildung nach ihrem Willen.

Kommentar:

Forderung 1 fußt auf der Erkenntnis, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als höchsten und wertvollsten Maßstab die individuelle Person des Menschen setzt. Dem Menschen, seiner Würde und der freien Entfaltung seiner Person sind die staatlichen Strukturen verpflichtet, und nicht umgekehrt! Dieser Respekt vor der Person ist bedingungslos. Er ist nicht an sekundäre Werte und Pflichten gebunden, wie z.B. Herkunft, Geschlecht oder Alter. In den ersten Artikeln unseres Grundgesetzes ist das Vertrauen in die menschliche Natur und die gleichzeitige Absage an alle in Mißtrauen wurzelnden Formen von Staatswillkür, Gewalt und Machtautorität verankert.

Offenbar sieht der Staat bisher Kinder nicht als vollwertige Menschen an, sonst würde er die Freiheitsrechte der Grundgesetzartikel 1 bis 5 selbstverständlich auch gegenüber jungen Menschen respektieren. Würde der Gesetzgeber die Diskriminierung von Kindern auf Grund ihres Alters als Verstoß gegen die Menschenrechte erkennen und überwinden, wäre diese Forderung der Petition gegenstandslos. Schulpflicht, gar verbunden mit Schulzwang, hätte damit keinen Bestand mehr.

Das Bundesverfassungsgericht, das bisher Kinder als zu bevormundende Wesen erklärt, steht im Gegensatz zu einer großen Zahl von Eltern, die im Verhältnis zu ihren Kindern keine Bevormundung, sondern gleichberechtigte Partnerschaft ausüben. Sollte der Staat mehrheitlich der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zustimmen, so darf dies nicht dazu führen, daß diejenigen, die nicht dieser Auffassung sind, durch den zur Pflicht gemachten Besuch einer staatlich vorgeschriebenen Schule gezwungen werden, ihre Grundüberzeugungen aufzugeben oder nur stark eingeschränkt zu verwirklichen.

Sollte jungen Menschen die wirksame Wahrnehmung ihres angeborenen Rechts auf Selbstbestimmung – das ja wesentlich weiter reicht als nur bis zur Bildung – nicht anders zu verschaffen sein, so müßte dieses ausdrücklich im Grundgesetz und in den Länderverfassungen verankert werden. In jedem Fall müßten sämtliche Vorschriften, in denen Rechte des Kindes nur in der Umschreibung als Pflicht der Erziehungsberechtigten formuliert sind, entsprechend geändert werden, so daß das Recht des Kindes erkennbar wird.

Forderung 2

(1) Eltern oder Vormünder haben die Pflicht, Kindern die Wahrnehmung von Bildungsangeboten, insbesondere von Unterricht, zu ermöglichen, und zwar entweder zu Hause, in privaten oder in öffentlichen Einrichtungen.

(2) Bei der Wahl von Bildungsform und Bildungsstätte haben Eltern oder Vormünder den Willen des Kindes zu achten.

Kommentar:

Der 1. Satz dieser Forderung bis „… zu ermöglichen“ geht auf den Artikel VI, § 155 der Paulskirchenverfassung von 1849 zurück (,’Schulpflicht der Eltern‘). Der zweite Teil des 1. Satzes „und zwar…“ ist angelehnt an entsprechende Passagen der Verfassungen u.a. von Irland, Österreich, Dänemark und Spanien.

Die Pflicht der Erwachsenen besteht in der Konsequenz aus Satz 1 nicht darin, Rechte junger Menschen stellvertretend wahrzunehmen, sondern dafür zu sorgen, daß diese z.B. ihr Recht auf freie Bildung entsprechend ihrer zunehmenden Einsichtsfähigkeit selbständig und selbstbestimmt wahrnehmen können. Der Staat hat dieses Recht des Kindes zu schützen. Anstatt darauf zu achten, daß Eltern ihre Kinder zu einer Form der Bildung zwingen, die häufig auch gegen die eigene Überzeugung steht, muß er vielmehr darüber wachen, daß Eltern ihre Kinder nicht vom Zugang zu pluralistischen Bildungsmöglichkeiten abhalten. Diese müssen vom Staat gefördert werden.

Jeder Erwachsene beansprucht für sich das Recht, selbst zu bestimmen, was und wie er in seinem Leben lernen möchte. Er sucht sich dafür die für ihn geeignete Form der Lernmethode, den geeigneten Lehrer und den geeigneten Zeitpunkt aus. Unseren Kindern aber wird dieses selbstverständliche Recht bis heute verweigert. Sie können nicht aus einem breiten Angebot diejenige Unterrichtsform aussuchen, die ihrem eigenen Entfaltungstempo angemessen ist. Sie können nicht wählen, von wem und wie sie gerne lernen möchten. Sie haben kein Recht, sich bei der Wahl dessen, was sie sich anzueignen wünschen, von ihrem eigenen Rhythmus leiten zu lassen – geschweige denn, daß sie wählen können, ob sie überhaupt in eine Schule gehen oder lieber an anderen Orten, in anderen Zusammenhängen lernen wollen. Wenn Eltern – nicht als „Erzieher“, sondern als Freunde und Partner ihrer Kinder – dieses Dilemma erkennen und ihren Kindern dieselben Wahlmöglichkeiten bieten wollen, die sie als Erwachsene haben, muß eine moderne Gesellschaft dies zulassen.

Das Prinzip der Bevormundung, das vom Bundesverfassungsgericht zum Grundsatz staatlicher Erziehung gemacht wird, zwingt Eltern, gegenüber ihren Kindern zu Vollzugsorganen des Staates zu werden. Wenn sich ein Kind weigert, die vorgeschriebene Schule zu besuchen, müssen nach gängiger Auffassung die Eltern mit entsprechenden Erziehungsmaßnahmen „unter Brechung seines Willens“ dafür sorgen, daß das Kind seine Weigerung aufgibt. Achten jedoch Eltern den Willen ihres Kindes und fördern es unabhängig von der Schule nach bestem Wissen und Gewissen, lehnen sie darüber hinaus auch nicht nur solche Maßnahmen ab, die als entwürdigend angesehen werden, z.B. körperliche Züchtigung, sondern auch entsprechende psychologische Manipulationen, greift der Staat mit Mitteln ein, die für den gegenteiligen Fall, nämlich die Mißhandlung und Verwahrlosung von Kindern, gedacht sind, z.B. durch Entzug des Sorgerechts und Heimeinweisung. Eine derartige Pervertierung des Fürsorgegedankens, die leider häufiger vorkommt, als die Öffentlichkeit vermutet, könnte mit dieser Forderung der Petition unmöglich gemacht werden.

Forderung 3

(1) Bildungsangebote, auch in Form von Schulen, kann jede natürliche oder juristische Person, welche die Grundrechte und Gesetze achtet, gleichberechtigt neben den staatlichen Angeboten unterbreiten.

(2) Der Staat darf im Bereich schulischer Bildung Eltern oder Vormünder nicht verpflichten, unter Verletzung ihres Gewissens und ihrer rechtmäßigen Wahl die Kinder in staatliche Schulen oder irgendeinen besonderen, vom Staat vorgeschriebenen, Schultypus zu schicken.

Kommentar:

Der zweite Satz dieser Forderung ist von der irischen Verfassung inspiriert.

Mit diesem Passus wird einerseits der Staat weiterhin in seiner Aufgabe bestätigt, für ein lückenloses Bildungsangebot Sorge zu tragen. Gleichzeitig soll jedoch die Entstehung von Monopolen sowohl privater wie staatlicher Anbieter von Bildung verhindert werden. Die einzige Möglichkeit dazu bietet die Gewährleistung der freien Wahl derer, die Bildung nachfragen. Dies bedingt ein umfassendes, freies Bildungsangebot, das den Gesetzen des freien Marktes entspricht.

Wie sehr die Angst vor den Gesetzen des freien Marktes vor allem in starren Bürokratien verbreitet ist, sehen wir derzeit am Beispiel der östlichen Länder. Wir haben festgestellt, wie ineffektiv Kombinate arbeiten. Um die Wirtschaft zu sanieren, müssen die Kombinatsstrukturen aufgelöst und die Menschen aus den Planstrukturen entlassen werden.

Die preußische Schulreform von 1810 hat kombinatsähnliche Strukturen hervorgebracht. Die Gliederung der Schulaufsicht entspricht einem Kombinat durch globale Steuerung, Zentralismus, Steuerung über mehrere Ebenen bis in die einzelnen Schulen hinunter. Daraus resultiert die Unfähigkeit der unteren Instanzen, flexible, situationsgemäße Entscheidungen zu treffen, weil jede Entscheidung im Einzelfall Präzedenzcharakter haben kann und daher mit den oberen Instanzen abgeklärt sein muß. So geht die Einzelinitiative, selbst, wenn sie vorhanden ist, auf dem Behördenweg verloren.

Wir bauen darauf, daß die Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse des Menschen nur von einer Gemeinschaft geleistet werden kann, die die Bedürfnisse ihrer Mitglieder wirklich kennt und zur Beantwortung unmittelbar und zeitnah in der Lage ist. Dies scheint in Zukunft immer wichtiger zu werden, wo durch die Veränderungen des Arbeitsmarktes und der Öffnung der nationalen Strukturen die Gefahr der Vereinzelung und Entfremdung der Menschen wächst.

Bildung ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen. Er braucht die Befriedigung dieses Bedürfnisses so dringend wie Geborgenheit. Bildungseinrichtungen, die von den Menschen eines überschaubaren sozialen Raumes getragen werden, können den destruktiven Tendenzen einer anonymen Gesellschaft hervorragend widerstehen. Dies wird z.B. an der wachsenden Anerkennung der amerikanischen Home-School-Bewegung deutlich. Mehr als 2 Millionen Kinder werden dort in kleinen Nachbarschaftsinitiativen zuhause unterrichtet. Die staatlichen Behörden haben die Bewegung anfänglich zum Teil erbittert bekämpft, Eltern gingen für die Idee ins Gefängnis. Heute kann man feststellen, daß in solchen Einrichtungen die Rate an Kriminalität, Destruktivismus und vor allem Drogenmißbrauch verschwindend klein ist im Vergleich zum öffentlichen Schulwesen.

Der Gesetzgeber muß daher die Voraussetzungen schaffen, daß solche private Initiative entstehen kann. Wo dies nicht möglich ist, muß der Staat entsprechende Strukturen anbieten, in denen die jungen und erwachsenen Bürgerinnen und Bürger aktiven Anteil an der Gestaltung der Bildungs- und Gemeinschaftsaufgaben nehmen können.

Ein Land wie die Bundesrepublik, das in den letzten Jahren im europäischen Vergleich den stärksten Geburtenrückgang zu verzeichnen hatte, kann es sich auch aus ökonomischer Sicht nicht leisten, junge Menschen ohne die jeweils erreichbare beste Qualifikation in das Berufsleben zu entlassen. Um die „Begabungsreserven“ zu entdecken und vor allem auch auszuschöpfen, müssen neue und vielfältige Wege erschlossen werden. Von den rund 60.000 Schülern, die Jahr für Jahr ohne Abschluß bleiben, könnten mit Sicherheit die meisten ein weitaus befriedigenderes Ergebnis erzielen, wenn die Möglichkeit zu individuellem Lernen – und dies nicht nur für die Begüterten! – bestünde.

Forderung 4

Alle Menschen haben das gleiche Recht auf staatliche Förderung ihrer Bildung und Ausbildung.

Kommentar:

Diese Forderung ist sinngemäß z.B. in der spanischen Verfassung enthalten.

Damit soll die finanzielle Chancengleichheit der Bildungsträger und der Bildungssuchenden gesichert werden. Entgegen den ursprünglichen Absichten ist heute wie früher Bildung als Chance und in der Qualität tatsächlich an den Geldbeutel geknüpft: Mindestens jeder fünfte Schüler erhält teuer bezahlten Nachhilfeunterricht, viele scheitern, weil sie ihn nicht finanzieren können. Es gibt Eliteschulen, die sich nicht jeder qualifizierte Bildungssuchende bzw. jedes Elternhaus leisten kann. Niemand wird gegen eine Elite eingestellt sein, solange es sich um eine Elite der Kompetenz handelt. Eliten jedoch, die sich auf der Verfügbarkeit von Geldmitteln gründen, sind sozial unverträglich.

Es ist unerheblich, ob die Bildungssuchenden oder die Bildungsanbieter von der Öffentlichkeit gefördert werden. Jedes Modell, das die finanzielle Chancengleichheit in der Realität sichert, soll Zugang zum Markt haben.
Die Verwirklichung der Forderungen 3 und 4 würde ein buntes, phantasievolles Feld vielfältiger Bildungsangebote außerordentlich fördern. Die Nachfrage nach menschengerechter Bildung würde Angebote entstehen lassen, die einerseits die Gesamtentfaltung einer Person optimal unterstützen und andererseits spezielle Fähigkeiten mit lernbiologisch sinnvollen Methoden in kurzer Zeit auszubilden helfen. Der immense Verlust kostbarer Zeit zum Leben, die in den heutigen Schulen mit abstumpfenden Aufgaben bezüglich unangemessener Bildungsinhalte und unter dem Einfluß von Methoden, die den Erkenntnissen der Lernforschung zuwiderlaufen, abgesessen wird, könnte der Vergangenheit angehören.

Forderung 5

(1)Die Bildungsinhalte bleiben Gegenstand der Diskussion in der gesamten Gesellschaft und dürfen nicht vom Staat vorgeschrieben werden.

(2) Die Öffentlichkeit wacht jedoch darüber, daß das Recht auf freie Bildung von jedem Menschen, insbesondere von Kindern, uneingeschränkt und selbstbestimmt wahrgenommen werden kann.

(3) Die Rechtsaufsicht wird von staatlichen Organen ausgeübt, deren Mitglieder auf Zeit gewählt werden. Die Mitglieder sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.

Kommentar:

Mit diesem Vorschlag wird das in allen deutschen Verfassungen seit 1849 verankerte Wächteramt des Staates über das Bildungswesen erstmalig präzisiert. Die bisherige Praxis der vom Bürger unkontrollierbaren Selbstaufsicht des Schulmonopolisten Staat wird damit auf eine demokratische Basis gestellt. Unabhängige Aufsichtsorgane haben nun nicht mehr darüber zu wachen, daß alle jugendlichen Bürger dieselbe staatlich verordnete Bildung verfügt bekommen. Vielmehr haben sie darüber zu wachen, daß Eltern und Behörden dafür Sorge tragen, daß die jungen Menschen ihr Recht auf freie Bildung tatsächlich selbstbestimmt wahrnehmen können.

Denkbar ist z.B. ein „Bildungsrat“, der seinen Namen zu Recht trägt. Dieser könnte die Tendenzen der Zeit auf konsensfähige Werte prüfen, die humanistisches Kulturgut sind und bleiben sollen. Aus dieser Beobachtung und der Diskussion in der gesamten Gesellschaft könnten Empfehlungen für die Grund- und Allgemeinbildung erstellt werden, die der Öffentlichkeit stets zugänglich sind. Bildungssuchende und vor allem Bildungsträger würden diese Empfehlungen in freiem Ermessen zur Maßschnur ihres Angebots machen können.

Die Rechtsaufsicht über das freie Bildungswesen könnte mit den vielfältigen Schutzfunktionen, die heute schon gesetzliche Realität sind, z.B. Jugendschutz oder Schutz der Kinder vor Mißhandlung, in ein einheitliches Rechtsgebäude zusammengefaßt werden, das die Unverletzlichkeit der Person des Kindes nicht nur in körperlicher, sondern auch in seelischer und geistiger Hinsicht garantiert. Die Verknüpfung dieser Schutzfunktionen mit dem Prinzip der freien Wahl könnte der bisher häufig entmündigenden und entwürdigenden Handhabung entgegenwirken.

Schlussgedanke


Die Petition ist getragen von dem Gedanken und der Erfahrung einer grundlegenden Gleichwertigkeit der Menschen, unabhängig von ihrem Alter.

Eine Gesellschaft, die aufmerksam und wahrhaft demokratisch ist, muß selbstverständlich auch die Stimme der jungen Menschen hören. Dazu muß sie in ihrem Denken und in ihren äußeren Formen die Knebel beseitigen, die diese Stimme dämpfen. Sie darf diese Stimme nicht verformen und für ihre Zwecke einspannen. Junge Menschen brauchen heute mehr denn je unsere Unterstützung, neue – und deshalb vom Hergebrachten abweichende – Lebensentwürfe zu verwirklichen.

Der gesellschaftliche Wandel in diesem Jahrhundert vom autoritären Obrigkeitsstaat zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat hat bisher das Bildungswesen grundsätzlich ausgeklammert. An der Schwelle zum 3. Jahrtausend erleben wir, wie unsere Welt bestürzende Schäden durch das Wirken des Menschen erleidet. Dieses schädliche Verhalten rührt wesentlich aus der Tatsache her, daß der einzelne nicht gelernt hat, sich selbstverantwortlich und bewußt als nehmenden und gebenden Teil des Ganzen zu verstehen. Ursache dafür sind veraltete Bildungsstrukturen, die den Menschen von der Übernahme von Verantwortung abhalten und ihn aus seinem eigenen Wesen herausbiegen, statt ihm zu helfen, sich als integrierte Persönlichkeit zu erleben. Die grundlegende Neugestaltung des Bildungswesens könnte eine bedeutende Chance sein, die schöpferischen Kräfte der Menschen zum Wohle der ganzen Lebensgemeinschaft auf unserem Planeten zu aktivieren.

Eine lebenswerte Zukunft braucht mehr als alles andere und dringender als jemals zuvor Menschen, die zu wechselseitigem Austausch auf unmittelbarer und globaler Ebene, zur Hege und Pflege der sie umgebenden Natur, zur Kooperation mit allen Kräften, die das Leben gestalten, fähig und willens sind. Die Fähigkeit zur Kooperation entfaltet sich im wesentlichen in Kindheit und Jugend. Kooperation als Lebensgrundlage der Zukunft kann nur aufblühen, wenn wir Erwachsenen zur Partnerschaft untereinander und mit den jungen Menschen, die wir Kinder nennen, bereit sind.

Verabschieden wir uns also von überholten und lebensfeindlichen Konzepten wie Zentralismus, Bevormundung und Fremdbestimmung. Schütteln wir die Angst vor dem mündigen Menschen ab! Geben wir dem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung eine Chance!

Wolfratshausen, den 18. September 1991
Johannes Heimrath