Lieber Harald,

aus dem guten Dutzend Menschen, mit denen ich kontinuierlich zu sprechen pflege – virtuell natürlich, meist auf der Autobahn, wenn die gleitende Bewegung (ich stelle meinen Tempomaten nur noch auf 112 km/h, die in früheren langen Eilfahrten quer durch Mitteleuropa ermittelte optimale Durchschnittsgeschwindigkeit, ein) dem Maind (ich möchte das als deutsches Wort einbürgern) die Freiheit schenkt, durch die unterschiedlichsten Landschaften des im Leben nicht in seiner ganzen Ausdehnung erwanderbaren Terrains des Rätselhaften, Denk- und Fragwürdigen, Erstaunlichen etc. zu schweifen – bist du einer der herausforderndsten.

Dann und wann höre ich dich auf einer Fahrt zu den üblichen Sendezeiten zufällig im Deutschlandfunk etwas Erfrischendes sagen und freue mich über den Live-Kontakt – von dem du freilich in jenen Augenblicken nichts wissen kannst. In der Regel setze ich aber Gedanken aus unseren physischen Gesprächen fort, die den komplexen Themen, die uns nun mal umtreiben, entsprechend nie zu einer befriedigenden Lösung führen können.

Ein stetig wiederkehrender Denkfaden spinnt sich schon seit dem Jahr 2012 fort, wo du in einem – realen – Gespräch für die Oya-Ausgabe 17 Folgendes gesagt hast:

»Wir kommen an das große Thema, wie eine nachhaltige Zukunft aussehen könnte. Ich denke, sie wird viele Merkmale der Gegenwartsgesellschaft tragen. Wir werden bestimmte zivilisatorische Errungenschaften beibehalten, wenn wir nicht in diktatorische oder beliebige Verhältnisse kommen wollen. Meine Utopie sind weniger kleinräumige Gruppen, denn in Zukunft haben wir es mit Städten von 40 Millionen Einwohnern zu tun. Ohne Megastrukturen wird es nicht gehen. Die Frage ist daher vor allem, wie sich solche Strukturen zivilisieren lassen. Im Moment arbeitet die Gesellschaft in Richtung einer Dezivilisierung.«

Wir hatten über Gewalt gesprochen und waren auf die Qualität des Innehaltens gekommen. Ich meinte, eine Aufgabe des Innehaltens könne darin bestehen, dass wir uns eine Industrie vorstellten, die nur das »Nötige« herstelle. Bis heute bezweifle ich allerdings, dass es dahin kommen könnte. Ich denke ja schon lange über Wege zu einer kleinräumiger gegliederten Gesellschaft nach – polyzentrisch organisiert, von einem hohen Maß an sozialer Zuwendung geprägt und somit nicht auf materielle Ersatzbefriedigungsgüter angewiesen (um nicht »ressourcenschonend« sagen zu müssen) – und versuche ganz praktisch, für mich selbst herauszufinden, was für ein Mensch ich sein müsste, um für einen solchen Weg gut gerüstet zu sein.

Du hingegen meintest, auch in Hinblick auf die zunehmende Urbanisierung: »Eine nachhaltige Zukunft wird nicht ohne Fremdversorgung auskommen, ein 40-Millionen-Aggregat lässt sich nicht autark machen. Und alle möchten nach wie vor, dass Notfallmedizin verfügbar ist. Ich stelle mir da eine Kombinatorik vor, die wir noch nicht wirklich kennen. Sie wird gewisse Dinge bewahren, die dieser Kapitalismus geschaffen hat. Es gilt, sinnvolle Fremdversorgung und Industriestrukturen zu sortieren in das, was – bei Licht betrachtet – überflüssig ist, und das, was sich zu erhalten lohnt.«

Eben das ist die Frage – was von dem Heutigen lohnt sich, erhalten zu bleiben? Damals haben wir über Cruise Missiles und Drohnen gesprochen, mit denen sich Genozide eindämmen ließen, über den Wunsch von Niko Paech, mit Hilfe der Medizintechnik einen Herzinfarkt überleben zu können; wir hätten die Robotik hinzufügen können, der von vielen zugeschrieben wird, sie würde einst helfen, von der Landwirtschaft über den Verkehr bis zum Katastrophen- und Kriegseinsatz mineralische, energetische, monetäre und humane Ressourcen zu schonen.

Immer wieder habe ich mir diese reduzierte Industriegesellschaft vorzustellen versucht – und habe keinen Ausweg aus dem Circulus vitiosus gefunden, dessen Mittelpunkt ein relativ kleines Metallteil bildet, das in unzähligen Varietäten unsere Eisenzeit beherrscht wie die Bakterien die Biosphäre: die Schraube.

In meiner Gong-Manufaktur arbeiten gestandene Metaller, und da wir vom Erreichen größtmöglicher Fertigungstiefe beseelt sind, drehen sich viele Pausengespräche darum, was wir alles aus Rohmaterial – Bändern, Platten, Stäben, Rohren – selbst herstellen können: Ziemlich viel von dem, was wir handwerklich produzieren, erfordert nicht mehr als Hämmer, Sägen, Bohrer und andere einfache Handwerkzeuge. Einiges schweißen wir, aber da könnten wir zur Not auf Techniken zurückgreifen, die vor der Entdeckung des Acetylens bekannt waren. Sogar die Schrauben, die wir benötigen, schneiden wir selbst aus dem Vollen.

Und da fängt es an, zu hapern: Den Gewindeschneider, mit dem wir unsere Schrauben fabrizieren, können wir nicht selbst herstellen. Dazu ist eine Werkzeugmaschine nötig, die selbst voller Schrauben sitzt, die wiederum auf Fertigungsstraßen hergestellt werden, die mit Schrauben gespickt sind, die von Maschinen stammen, die von weiteren Schrauben zusammengehalten werden – und so fort. Die Anzahl der Schrauben, die in den unterschiedlichsten Arten unsere heutige Welt beherrschen, dürfte alles übersteigen, was es sonst so an normierten und nicht-normierten Einzelteilen in der mechanischen Welt gibt. Das Kleben holt nur scheinbar mächtig auf – wie werden denn die Kleber hergestellt? Doch nicht aus geklebten Maschinen! Nein, ohne Schrauben kein moderner Klebstoff, kein Material, das sich verkleben lässt, kein Erdöl, aus dem das Material gewonnen wird, kein Bohrer, der die Ölquelle erschließt, kein Schiff, das die Bohrinsel an ihren Ort zieht, kein Satellit, der dem Kapitän bei der Navigation hilft, kein Konzern, der den Kapitän bezahlt, kein Geld, das der Konzern einnehmen kann, keine Druckmaschine, auf der das Geld gedruckt wird, kein Geldscheindesigner, der von seinem Gehalt einen neuen Computer kauft, um mit dem Design von Geldscheinen sein Geld zu verdienen; und in dem Computer sind besonders fiese Schrauben verbaut, für die im Fall der Havarie der Servicetechniker, der eine Vielzahl von Geräten auf seinem Tisch hat, die mit alltäglichen Schrauben zusammengehalten werden, spezielle Schraubendreher benötigt, die auf Spezialmaschinen (geschraubten natürlich) von Menschen hergestellt werden, die vor Langeweile kündigen würden, wenn sie von ihrem Geld nichts kaufen könnten, was ihnen den Feierabend und den Urlaub versüßt, keine Playstation, keinen Over-Fired Broiler, kein Snowboard, ach so, was Einfaches: keine Waschmaschine, keinen Mixstab, keinen Deckenfluter, auch kein Gläschen veganen Brotaufstrich, nicht mal einen Haustürschlüssel.

Auf Tausenden von Autobahnkilometern, in Hunderten von inneren Dialogen mit dir habe ich das Imperium der Schrauben zu revolutionieren, zu schrumpfen, und wenn schon nicht zu beenden, so doch wenigstens in Überflüssiges und Erhaltenswertes zu sortieren versucht. Es ist mir nicht gelungen. Um all die Gerätschaften herstellen zu können, die wir heute benötigen, um einen Herzinfarkt überleben, einen Genozid vermeiden, eine LED zur Beleuchtung eines Gemäldes sparsam mit Strom versorgen zu können, muss die Welt genau so aussehen, wie sie heute aussieht. Es wird nicht gelingen, nur »gewisse Dinge« zu bewahren, »die dieser Kapitalismus geschaffen hat«, und das Überflüssige wegzulassen. Für das Imperium der Schrauben ist nichts überflüssig. Es stützt sich auf alles, was es hervorgebracht hat, so wie wir selbst höchstwahrscheinlich nur das von sich selbst übermäßig überzeugte Ergebnis dessen sind, was sich die wahren Herrscherinnen der Biosphäre – die Mikroben – zum Teil unter Aufgabe ihres Einzelwesendaseins zusammengebastelt haben.

Ein schönes Resultat dieser meine Neuronen unter Spannung haltenden inneren Dialoge mit dir – freilich nicht nur, aber doch zu einem nicht zu unterschätzenden Teil – ist nun endlich dieses: Seit kurzem bin ich Bauer (ja, Haupterwerbslandwirt). Ich bin ja jetzt 65 – fünf Jahre älter als du –, und meinen nächsten Lebensabschnitt – vielleicht bis 80 – werde ich der Verbindung meines Herzens mit einem wunderschönen Stück Land widmen. Ich habe meine übrigen Firmen und Projekte auf einen guten Weg gebracht, so dass sie, solange es den Kapitalismus noch gibt, möglichst Gutes wirken mögen. Jetzt will ich erproben, ob und wie wir (eine nennenswerte Anzahl Menschen, vielleicht bis zu 100) uns ganzjährig ausschließlich von dem ernähren und kleiden können, was in unserem Klima auf unseren Böden (hier diejenigen des Lassaner Winkels, so um die 30 Bodenpunkte) wächst, wie wir es bestens und humusaufbauend anbauen, verarbeiten und haltbar machen, so dass es auch durch den Winter kommt bzw. zu Gewändern wird, wie wir dazu möglichst einfaches Werkzeug verwenden und dabei auch herausfinden, wie weit wir uns dem Reich der Schrauben entziehen können – und wo es schlicht nicht mehr weitergeht ohne sie und den ganzen Apparat hinter ihnen. Davon erhoffe ich mir buchstäblich handfeste Erkenntnisse über ein paar weitere Meter Wegstrecke zu jener kleinräumig gegliederten Gesellschaft – polyzentrisch organisiert, von einem hohen Maß an sozialer Zuwendung geprägt und somit nicht auf materielle Ersatzbefriedigungsgüter angewiesen, die ich dir in meinen inneren Dialogen mit dir nahezubringen versuche (denn dass es für die 40-Millionen-Aggregate irgendeine enkeltaugliche Lösung geben könnte, dafür fehlen mir schlicht die Ideen).

Und dass ich dich demnächst mal wieder zu uns nach Klein Jasedow einlade, ist sicher. Ich lechze geradezu nach deinen realen, körperlichen Gedanken in dieser Sache. Ich vermute, sie werden sich anders anfühlen, wenn wir dann auf dem Acker stehen, als damals, als wir im Berliner Büro so vor uns hin dachten.

Erschienen in: Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf. Herausgegeben von Dana Giesecke, H.-G. Soeffner und Klaus Wiegandt; Frankfurt am Main 2018