Johannes Heimrath sprach im Jahr 1988 mit Nancy ­Arrowsmith über Naturgeister.

Dieses Interview aus der zweiten­ Ausgabe der Vorgänger-Zeitschrift von Oya, KursKontakte, aus dem Jahr 1988 zeigt, dass von Anfang an das Eingebundensein in die mehr-als-menschliche Welt ein wichtiges Thema unseres Forschens war. Nancy Arrow­smiths Buch über das »Kleine Volk«, die »Little People«, wie es im englischen Titel heißt, spiegelt auf Grundlage ihrer ethnografischen Recherchen die Wahrnehmung rätselhafter Phänomene der Menschen voriger Jahrhunderte. – Lara Mallien

Johannes Heimrath: Nancy, 1984 ist dein Buch »Die Welt der Naturgeister« in Deutschland erschienen – schon 1977 die englische Ausgabe »A Field Guide to the Little People« –, illustriert von Heinz Edelmann, der auch den Beatles-Film »Yellow Submarine gezeichnet hat. Wann hast du begonnen, an diesem Buch zu arbeiten?

Nancy Arrowsmith: Etwa 1971, da war ich 21 Jahre alt. Ich habe zwei Jahre recherchiert und dann ein halbes Jahr geschrieben. Vier Jahre lang habe ich danach versucht, einen Verlag zu finden.

JH: Wie hast du recherchiert?

NA: In Bibliotheken, hauptsächlich in Niederschriften von Erzählungen – Aufzeichnungen von dem, was die Leute sich früher erzählt haben. Die wurden mit Tonband aufgenommen und dann abgeschrieben oder direkt abnotiert.

JH: Wagt man sich mit 21 an so ein Thema aus akademischem Interesse?

NA: Ich komme aus einem akademischen Haushalt und habe nicht daran gedacht, zu studieren. Ich wollte tun, was mich fasziniert hat. Worin ich mich weiter vertiefen wollte, waren eben die Naturgeister. Am Anfang dachte ich, vielleicht finde ich ein, zwei, drei, vier, fünf Gestalten. Plötzlich hatte ich Hunderte und Aberhunderte, dann waren es Tausende – und so bin ich in diese Welt hineingezogen worden.

Was mich faszinierte: Auf der ganzen Welt kommen in den Erzählungen immer wieder dieselben Züge vor. Zum Beispiel haben fast alle Naturgeister auf der Welt Abscheu vor Salz. Sie sind vor Eisen scheu, so dass man sie damit vertreiben kann. Das kann kein Zufall sein! Als die Erzählungen aufgeschrieben wurden, war die Forschung in den verschiedenen Kontinenten ja noch vollkommen getrennt.

JH: Von welcher Zeit müssen wir da ausgehen?

NA: Die meisten Überlieferungen, die ich studiert habe, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Zwischen 1850 und 1920 sind Unmengen von Aufzeichnungen entstanden. Dass sie in ziemlich reiner Form erhalten sind, also nicht nachträglich bearbeitet und »ausgebessert« wurden, kann man erkennen, wenn man sie mit den ersten Tonbandaufzeichnungen vergleicht. Die nur aufgeschriebenen Erzählungen sind »nach dem Mund« des Erzählers verfasst worden.

JH: Im 19. Jahrhundert gab es aber doch schon einen regen kulturellen Austausch zwischen den Ländern.

NA: Diese Erzählungen lebten ja in einer Bevölkerungsschicht, die an diesem Austausch gar keinen Anteil hatte. Natürlich folgen die Erzählungen den jeweils landesüblichen Sitten, aber die Gestalten sind frappierend ähnlich.

JH: Was bedeutet das?

NA: Dass es wohl irgend etwas geben muss.

JH: Was kann das sein? Es gibt ja zwei Möglichkeiten, solche Erscheinungen zu erklären: Entweder gibt es tatsächlich in der Natur eine eigenständige Kraft, die sich dem Menschen in ihm erkennbaren Formen zeigt, oder alles befindet sich innerhalb des Menschen – es handelt sich also um Spiegelungen ­menschlicher Eigenschaften, um die Konkretisierung von Ängsten und Wünschen.

NA: Selbstverständlich tun das die Menschen gern. Wenn sie etwas nicht erklären können, geben sie ihm eine erkennbare Gestalt, bekleiden es mit einem schönen Hut, ziehen ihm ein buntes Röckchen an und sagen, der heißt jetzt Herbert und der heißt Franz. Aber ich glaube, es ist außer Zweifel, dass es da etwas Nicht-Menschliches gibt, das auch nicht in die menschliche Welt einzwängbar ist. Ich glaube, dass es diese Geister – oder besser, diese Gewalten – doch gibt, dass es etwas ist, das außerhalb unserer menschlichen Welt lebt, und aus Vereinfachung geben wir diesen Gewalten eine Gestalt und sagen eben, das ist ein Naturgeist, ein Kobold, ein Hausgeist.

JH: Du sagst also, es ist nicht Teil des Menschen, sondern Teil der vom Menschen außerhalb seiner selbst erfahrenen ­Natur?

NA: Selbstverständlich gibt es sehr viele Erklärungen, was Naturgeister seien. Die einen meinen, es seien Seelen der alten Völker, die weiterleben, oder es seien Verkörperungen von Elementarkräften und so fort. Ich selbst will mich nicht festlegen und sagen: Das sind sie. Ich spüre nur, dass da »etwas« ist, und ich respektiere es, möchte es nicht in einen Namen oder in eine Gestalt hineinzwängen. Ich meine, man soll sie einfach leben lassen.

JH: Wie nimmst du dieses Etwas wahr?

NA: Wenn ich zum Beispiel im Wald bin, und es wird dunkel, oder ein Sturm kommt, dann ist alles plötzlich elektrisch, die Haare fangen an, zu Berge zu stehen – wo kommt das her? Sicherlich lässt sich das auch mit physikalischen Vorgängen erklären, aber es gibt auch gerade im Wald diese Orte, an denen man deutlich fühlt: Da ist etwas. Man bekommt auch Träume, Alpträume von solchen Stellen.

JH: Materialisten erklären das mit Ladung in der Luft, die sich auf den Stoffwechsel auswirkt, Radiästheten mit schlechten »Erdstrahlen«. Einen Alptraum kannst du auch bekommen, wenn du zu viele harte Eier gegessen hast.

NA: Man kann das freilich wegerklären, aber wenn du den hartgesottensten Materialisten in den Wald steckst, kommt auch ihm an dieser Stelle ein Grauen oder wenigstens ein unsicheres Gefühl. Fast alle kennen wenigstens eine solche Begegnung mit dem Unbekannten, fast alle haben so eine Erfahrung, die unerklärlich scheint und einen tiefen Eindruck hinterlassen hat – sei es, dass ein Mensch Stimmen gehört hat, sich im Wald verloren hat, eine unerklärliche Gestalt gesehen oder dass etwas auf unerklärliche Weise wie vom Erdboden verschluckt ist und so fort. Das kann zu Panik führen oder zumindest Angst machen. Und das kommt eben gerade auch bei Leuten vor, die sonst alles »wissenschaftlich« erklären können.

JH: Suchst du die Beziehung mit Geistern? Wünschst du dir eine Kooperation?

NA: Ich suche sie nicht direkt, sondern versuche, in Frieden mit ihnen zu leben. Was mich jedoch unendlich fasziniert, sind Pflanzen – ihr Leben, ihre Keimkraft, wie ein Same aufbricht und etwas daraus entsteht. Seit eh und je heißt es, dass Naturgeister diesen Vorgang beeinflussen. Darin liegt für mich die Faszination, und so komme ich vielleicht mit ihnen in Berührung – im Garten, durch die Beobachtung des Keimens und Wachsens. Deswegen halte ich das Streuen von Pflanzengiften für widersinnig, weil man dadurch zerstört, tötet, einen Wachstumsvorgang unterbricht.

Wenn die Geister weg sind, so heißt es immer in den alten Erzählungen, wird das Land ganz öd. Im Garten oder auf den Feldern wächst freilich immer noch etwas, aber wenn es üppig wachsen und gedeihen oder eine besondere Harmonie entstehen soll, dann glaube ich, dass doch andere Kräfte mitspielen müssen.

JH: Von nordamerikanischen Indigenen habe ich gehört, dass sie sich bedanken, sogar mit einem Geldstück, wenn sie von einer Pflanze, von einem Baum etwas nehmen.

NA: Das hat man hier zum Beispiel beim Holunder gemacht. Man hat ihn erst einmal gefragt: »Frau Holunder, Frau Holunder, gibt mir etwas von deinen Beeren, und ich geb dir was von meinen, wenn sie im Walde wachsen.« Es war auch hier in der bäuerlichen Tradition verankert, dass gefragt wird, bevor etwas genommen wird. Dadurch hat man sich bewusstgemacht, dass man wirklich etwas nimmt, das Wert hat, das möglicherweise genauso viel Wert hat wie ein menschliches Leben.

JH: Warum gibt es das bei uns nicht mehr?

NA: Wir nehmen uns selbst sehr wichtig und glauben, der Mensch mit seiner Technik und seinen Erfindungen sei wichtiger als andere Lebenwesen – Pflanzen, Tiere oder Berge. Durch die Beschäftigung mit Naturgeistern hat sich bei mir ein gewisser »passiver Respekt« eingestellt gegenüber Kräften, die letztlich kein Mensch verstehen kann, die niemand zwingen soll.

JH: Es gibt ja Gruppen, die Rituale zur Versöhnung mit den Naturgeistern in ihren Gärten abhalten – würdest du das schon als Manipulation ablehnen?

NA: Im Garten ist ein gesundes praktisches Wissen elementar wichtig. Nur durch Kommunikationsversuche mit Naturgeistern wirst du keine bessere Gärtnerin. Wenn du aber mit dem Garten umgehen kannst und dann in Verbindung mit Naturgeistern treten willst, habe ich nichts dagegen. Nur muss da Respekt sein, die Bereitschaft, ohne Zwang auszukommen, nicht Macht über andere Lebewesen gewinnen oder den tollsten Kohlkopf bekommen zu wollen.

JH: Dieser Hinweis auf die Ernsthaftigkeit der Beschäftigung, auf die Professionalität, scheint mir sehr wichtig zu sein. Ist das auch der Grund, weshalb du deine Zeitschrift »Kraut & Rüben« entwickelt hast?

NA: Zum Teil ja. Es fehlte damals, vor drei, vier Jahren, an leicht verständlicher, gut bebilderter Information, wie du im Garten arbeiten kannst, ohne auf die Angebote der Chemie zurückzugreifen, wie du den Garten auf sanfte Art pflegen kannst, die Pflanzen sachgerecht schneidest und sie dabei nicht verstümmelst.

JH: Wer aufmerksam liest, schmeckt zwischen den Zeilen eine Ahnung davon, was du in deinem Buch über die Naturgeister schreibst oder hier eben gesagt hast. Willst du mit Kraut & Rüben etwas von dieser Botschaft vermitteln?

NA: Ja, ich möchte, dass ein sanfterer Umgang mit den Pflanzen geübt wird, dass nicht nur gehackt, gedüngt, geschnitten wird, sondern dass Menschen sich letztlich auch damit befassen, dass die Pflanzen Lebewesen sind. Außerdem: Wenn die unzähligen Hektar von Kleingärten nicht gespritzt und nicht kunstgedüngt würden, wäre sehr viel für die heimische Flora und Fauna, für die Vielfalt der Pflanzen getan.

JH: Dem dient auch dein jüngstes Projekt, die Züchtung und Sammlung von aussterbenden Pflanzen.

NA: Es gibt eine unendliche Fülle von fast vergessenen Pflanzen, die alle eine Daseinsberechtigung haben, die auch sehr oft heilende Wirkung haben oder gegessen werden können. Es macht auch Freude, wenn aus den Samen Pflanzen hervorwachsen, die man noch nie gesehen hat. Das ist genauso faszinierend wie die Beschäftigung mit Naturgeistern.

JH: Gibt es denn Gemeinschaften oder Vereine, die sich um die Züchtung und Pflege dieses besonderen Saatguts bemühen?

NA: Es gibt Organisationen, die sich seit Jahren mit der Vermehrung von Samen beschäftigen, auch Genbanken, einzelne Wissenschaftler und Saatgutzüchter. Aber in den letzten zwölf Jahren sind auch Gruppen entstanden, die aus ­Liebhaberei – aber durchaus professionell – Saatgut austauschen und Samen aufheben oder weiterzüchten. Das ist aufregend, denn diese Bewegung ist eigentlich neu entdeckt worden. Es gab sie natürlich immer. Bauern haben immer untereinander Samen ausgetauscht.

JH: Du hast das Buch über Naturgeister geschrieben, hast mit Kraut & Rüben begonnen und trägst mit deiner Samenzucht dazu bei, dass wichtige Pflanzen gerettet werden. Hast du den Eindruck, dass eine Art Führung hinter deinem Weg steht? Gibt es gar einen Naturgeist, der dich an die Hand nimmt?

NA: Ich meine, einen gibt es sicherlich nicht. Wenn es so ist, dann sind es sicherlich viele, die in verschiedene Richtungen ziehen.

Erschienen in Oya Ausgabe 49 (2018)

Zu diesem Text ist in Oya Ausgabe 49 ein aktuelles Porträt von Lara Mallien über Nancy Arrowsmith, die unter anderem auch Gründerin der Samenerhaltungsinitiative »Arche Noah« ist, erschienen.