Johannes Heimrath besuchte seine ehemalige Klassen­kameradin, die Mikrobiologin Irene Wagner-Döbler.

Es muss 30 Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal auf einem Klassentreffen war. Als Irene zusammen mit ihrer besten Freundin – einer weiteren Klassenkameradin – im Sommer 2018 nach Klein Jasedow zu Besuch kam, schien unsere Beziehung nur für ein Komma lang unterbrochen. Ihr Mitbringsel: ein fest verschlossenes Röhrchen mit Milliarden Bakterien – schwimmend im Wasser der ­Sargassosee, heraufgeholt aus 6000 Metern Tiefe! Sie konnte unmöglich wissen, dass ihr alter Schulkamerad inzwischen zum Mikrobenfreund mutiert war – ich aber wusste, dass Irene als Mikrobiologin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig die Wissenschaftsgemeinde mit bedeutenden Erkenntnissen über Bakterien- und Algenpopulationen im Ozean bereichert hat. Jene Bakterien, erklärte sie mir, hätten vermutlich einen wesentlichen Einfluss auf die Stabilität der für den Menschen überlebenswichtigen Atmosphäre.

Unsere Gespräche beeindruckten mich nachhaltig, nicht zuletzt deshalb, weil mir Irenes Perspektive auf jenen Bereich des Lebens, auf den wir gemeinsam blickten, so ganz anders aufgespannt erschien als die meine. So suchte ich sie zusammen mit Lara Mallien für diese Oya-Ausgabe in ihrem Backsteinhaus in der Nähe von Braunschweig auf. Sie lebt dort mit ihrem Mann Jens, ihrer 28-jährigen Wasserschildkröte und Schwärmen von Fischen, die sich in ­diversen Aquarien tummeln.

Johannes Heimrath: Vielen Dank, dass du uns so spontan empfängst und dafür sogar deinen Geigenabend abgesagt hast!

Irene Wagner-Döbler: Ja, normalerweise würde ich jetzt in einem kleinen, privaten Kammerorchester sitzen. Ich war ganz verblüfft, dass ihr mich interviewen wollt, denn ich bin doch auf ganz anderen Baustellen unterwegs als ihr und die Menschen in eurer Zeitschrift.

JH: Wo siehst du da den Unterschied?

IWD: Ich bin ein stinknormales Mitglied unserer Industriekultur. Ich lebe nicht enkeltauglich, sondern jette um die Welt, sei es aus beruflichen Gründen oder im Urlaub.

JH: Der Unterschied zu uns ist vermutlich marginal: Wir sind mit dem Auto hergefahren, haben ein High-Tech-Diktiergerät auf den Tisch gestellt und Laptops ­dabei – unser ökologischer Fußabdruck wird sich von deinem kaum unterscheiden. – »Stinknormal« ist freilich eine Provokation: Du forschst als Wissenschaftlerin zu äußerst exotischen Themen. Was glaubst du, wie oft ich an dein mitgebrachtes Tiefseeröhrchen denke?

IWD: Mit diesen Bakterien beschäftige ich mich ja nun schon seit einigen Jahren. Eines davon wird als Pelagibacter ubique SAR11 bezeichnet. Es kommt in allen Meeren bis in sehr große Tiefen vor und ist tatsächlich die häufigste lebendige Zelle auf der ganzen Erde. Mich beschäftigt die Frage, was mit dem Meer und der Atmosphäre geschähe, wenn die gesamte gigantische Population von SAR11 aussterben würde und stattdessen andere Bakterien im Meer leben würden: Bakterien, die mit höheren Temperaturen, Versauerung und Eutrophierung besser klarkommen. Würde sich die CO2-Anreicherung der Atmosphäre beschleunigen? Praktisch kann ich an dieser Frage nicht arbeiten – die Lebensbedingungen von Tiefseebakterien lassen sich im Labor kaum nachstellen. Will man sie auf üblichen Nährmedien ­kultivieren, sterben sie einfach. Außerdem sind sie stark aufeinander angewiesen – das eine produziert etwas, das vom anderen gebraucht wird. Wir wissen viel zu ­wenig, um überhaupt ein sinnvolles ­Modell für eine solche Vorhersage entwickeln zu können.

JH: Was passiert mit unseren Freunden, wenn sich die Wassertemperatur erhöht?

IWD: Vielleicht nichts, vielleicht passen sie sich genetisch an, vielleicht sterben sie aus. Wir wissen es nicht. SAR11 verstoffwechselt organische Moleküle und produziert dabei CO2. Da könnten wir sagen: Prima, wenn das ausstirbt, entweicht weniger Kohlendioxid in die Atmosphäre. Nun hat aber SAR11 einen sehr sparsamen Stoffwechsel. Würde es zum Beispiel von Flavobakterien verdrängt, die viel mehr CO2 herstellen, könnte der Klimawandel sich noch stärker beschleunigen. Aber all das sind nur Hypothesen; der Ozean ist viel zu komplex, um bestimmte Folgen vorherzusagen. Ich finde es aber relevant, über die Frage nachzudenken: Was passiert, wenn diese gigantische Population von Bakterien, die sich im Lauf von Millionen von Jahren an eine ganz bestimmte, sehr nährstoffarme, kühle Umwelt angepasst hat, verschwindet?

JH: Aus welchem Grund genau möchtest du das wissen?

IWD: Weil ich daraus ein Argument schmieden könnte wie etwa dieses: Nicht nur der Plastikmüll an den Stränden und die Fische brauchen Aufmerksamkeit, sondern auch Lebewesen, die wir nicht einmal sehen können! Es könnte uns hier richtig an den Kragen gehen. Ich fühle eine Verantwortung für den Ozean.

JH: Als ich dir im Sommer erzählte, dass ein umgekippter See bei uns bald saniert werden soll, meintest du: »In der angeblich toten Zone unten im See leben unzählige Bakterien, die bei der Sanierung vernichtet werden.« Ich übertrage das auf die Frage nach der Verantwortung für den Ozean: Wir und viele andere Wesen müssen die schmerzhaften Konsequenzen tragen, wenn er umkippt. Wird aber nicht das Leben an sich weitergehen? Was bedeutet, so betrachtet, das Gefühl von Verantwortung für einen Ozean?

IWD: Die Spezies Homo hat ja die Eigenschaft, die Welt für sich zu optimieren. Sie lässt bestimmte Pflanzen wachsen und züchtet Tiere, verändert die Umgebung so, dass sie sich wohlfühlt – deshalb entwickeln wir wohl auch eine besondere Sympathie zu anderen Lebewesen. Die Liebe zu den Krea­turen auf der Erde führt dazu, dass wir trauern, wenn sie verlorengehen.

JH: Ich frage mich, ob diese Trauer nur dem Menschen eigen ist. Kürzlich habe ich gelesen, dass Pflanzen »hören« können. In ihren mit Wasser gefüllten Zellen spüren sie die Vibration der Insektenflügel. Daraufhin öffnen sie ihre Drüsen und geben mehr Nektar in den Blütenkelch. Sie können unterscheiden, ob da eine Biene, Hummel, Mücke oder Fliege kommt. Wie würde es der Pflanze gehen, wenn die Welt um sie herum stumm bliebe? Ich drücke das anthropozentrisch aus: Müsste sie nicht so etwas »fühlen« wie: Wo bleibt mein Freund, meine Freundin? Dieses »Hören« scheint doch implizit mit einer »Erwartung« verbunden zu sein.

IWD: Wie kommst du darauf, dass die Pflanzen etwas »erwarten«? Es mag ja sein, dass die Drüsen durch die Vibration in der Luft stimuliert werden, aber das ist zunächst nur ein Reiz-Reaktions-Muster! Warum sollten die Pflanzen dadurch Lust oder Trauer empfinden? Sie haben ja kein Gehirn, keine Nerven.

JH: Warum sollte nicht das, was ich als Mensch »Erwartung« nenne, ein mir gänzlich unbekanntes Äquivalent – das sich mit meinem an ein Gehirn gebundenes Denken nie übersetzen lässt – im Pflanzenreich haben? Wenn ich Trauer empfinde, trauere ich ja nicht einem Reiz-Reaktions-Muster nach, sondern ich fühle Verwandtschaft zu anderen Lebewesen. Das Bild der »hörenden« Pflanze erzeugt in mir Resonanz. Das genügt mir bereits. Dir als Wissenschaftlerin genügt das selbstverständlich noch nicht …

IWD: Ja, mich interessiert das Reiz-Reaktions-Muster als solches. Ich bin davon überzeugt, dass die Wissenschaft das beste Instrument ist, das die Menschheit jemals erfunden hat, um die Wirklichkeit zu verstehen. Diese Ansicht teilen letztlich alle Menschen, auch wenn sie es nicht aussprechen – aber schon, indem sie sich in ein Auto setzen, bestätigen sie ihren Glauben daran, dass die Wissenschaft alle Mechanismen, die darin zur Anwendung kommen, richtig untersucht hat. Wenn ich in meiner Forschung eine Interaktion zwischen Alge und Bakterium nur minimal besser verstehen kann, fühlt sich das für mich an, als hätte ich einen winzigen Aspekt vom Wunder der Erde enthüllt.

JH: Der Begriff des Wunders ist ganz herrlich unwissenschaftlich …

IWD: Für mich ist wissenschaftlicher Fortschritt an sich eine Motivation. Da muss es mir noch gar nicht darum gehen, ein Krebsmittel zu entwickeln oder die Tiefsee zu retten. – Mein Lebensglück kommt trotzdem aus anderen Bereichen. Ich bin sehr glücklich, wenn ich allein in der ­Natur bin – habe sogar einmal überlegt, ein Jahr als Eremitin im Wald zu leben. Letztlich sind es aber die Beziehungen zu Menschen, die mich glücklich machen.

JH: Und wenn du deinen Beruf nicht hättest?

IWD: Ich würde sterben! (lacht) Zur Zeit kämpfe ich schwer mit der Erkenntnis, dass meine Zeit als Wissenschaftlerin begrenzt sein wird. Als Wissenschaftlerin bist du bescheuert, du blickst immer nur nach vorne, hast immer nur die nächste offene Frage, das nächste Projekt vor Augen – und das Gefühl, du hättest unendlich viel Zeit. Plötzlich bekommst du deinen ersten Rentenbescheid und stehst wie vor einer Mauer. Ich habe es jetzt so organisiert, dass ich noch vier Jahre weiterarbeiten kann, und auch danach kann ich verlängern. Aber irgendwann wird es vorbei sein.

JH: Hm, vorhin hast du gesagt, Wissenschaft und Lebensglück seien für dich getrennte Baustellen …

IWD: Es kommt darauf an, wie du Glück verstehst. Es gibt zum Beispiel das Glück über meine Söhne oder meine Freunde; das hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Auf der anderen Seite macht es mich glücklich, wenn ich das Gefühl habe, in meiner Forschung etwas enthüllt zu haben, das vorher noch verborgen war. Gerade sequenzieren wir zum Beispiel zum ersten Mal das Genom eines Dinoflagellaten. Das ist siebenmal größer als das des Menschen! Außerdem macht dieser Dino­flagellat ein sehr starkes Nervengift, Tetrodotoxin, das sich im Kugelfisch anreichert, und man vermutet, dass das Gift nur in Zusammenarbeit mit bestimmten Bakterien hergestellt wird. Wenn wir dieser Interaktion auf die Spur kämen, wäre das großartig!

JH: Ich nenne diese Begeisterung »wissenschaftlicher Eros«. Das ist eine Leidenschaft, die keinen rationalen Grund hat. Kannst du dich erinnern, wann du sie zum ersten Mal gespürt hast?

IWD: Bei meiner Doktorarbeit. Mein Doktorvater wollte, dass ich eine bestimmte Mückenlarve daraufhin untersuche, wie viele Wasserflöhe sie frisst. Das hat mich absolut nicht interessiert. Ich wollte aber wissen, warum sie sich tagsüber unten im Schlamm aufhält und erst in der Dunkelheit an eine bestimmte Stelle an der Wasseroberfläche schwimmt, dort frisst, um – wenn sie nicht selbst von einem Fisch gefressen wurde – bei Sonnenaufgang schnell wieder abzutauchen. Welche Signale verarbeitet sie, woher weiß sie, wann und wie schnell sie an welcher Stelle aufsteigen muss? Dieses Phänomen war damals noch nicht erforscht.

JH: Was aber ist es genau, das dich an so einer Sache derart ergreift, dass du es unbedingt ergründen willst?

IWD: Dieses Nachfragen ist ja schrecklich anstrengend! Warum willst du so viel über mich wissen?

JH: Ich erforsche dich jetzt, du bist mein Bakterium! (Beide lachen) Entschuldige bitte, ich will dir nicht zu nahe treten.

IWD: Also: Es fühlt sich an, als hätte ich an ­einem Ort, den niemand kennt, ein Schloss, in dem ich umhergehen kann – eine Welt, unsichtbar für die anderen Menschen. Mich in dieser Welt gedanklich zu bewegen, ist wie das Wandern in einem geheimen Palast. Manchmal treffe ich Menschen auf Tagungen, mit denen ich dort gemeinsam wandern und mich über Fachfragen austauschen kann; das begeistert uns dann.

Etwas wissenschaftlich exakt zu verstehen, gibt einem auch ein Gefühl von Macht und Kontrolle. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, als ich noch ziemlich jung war und unter dem Mikroskop das Mundwerkzeug von einem Wassertier angeschaut habe. Plötzlich hatte ich das Gefühl, genau zu verstehen, warum es diese spezifische Form haben muss.

JH: Das erinnert mich an den Moment, wo sich mir zum ersten Mal eine musikalische Komposition erschlossen hat. Ich musste nichts überlegen oder konstruieren, es was als Ganzes da. So ein Moment setzt Wissen und Erfahrung voraus – und die Bereitschaft, sich dem Nicht-Wissen, dem nächsten Moment zu öffnen. Es kommt dir vermutlich seltsam vor, aber ich möchte eine Ähnlichkeit zwischen uns ausdrücken. Mein Verdacht ist, dass Menschen, die eine so starke Verbundenheit oder Ergriffenheit erfahren, diverse Tarnmechanismen entwickeln. Sie fürchten, erkannt zu werden; sie wollen unabgelenkt sein, ganz und gar verbunden mit dem, was sie tun.

IWD: Gut möglich, dass ich solche Mechanismen habe. Nach außen hin wirke ich oft taff, aber ich lasse mich durch andere Menschen leicht aus mir selbst verscheuchen. Dann brauche ich lange Phasen der Einsamkeit, um wieder ich selbst und stark zu werden. Es soll eine Eigenheit ­introvertierter Menschen sein, dass sie das brauchen, um sich zu regenerieren.

JH: Ich denke, es verlangt nach einer Zartheit, um in eine bestimmte Tiefe vorzudringen – sei das in der künstlerischen oder der wissenschaftlichen Arbeit. Die Wesen, mit denen du dich beschäftigst, sind ja auch sehr zart, fein und klein.

IWD: Klein schon, aber nicht zart! Du kannst sie nicht kaputthauen! – Dieses Wissenschaftlerinnenkorsett liefert einen wunderbaren Halt für jemanden wie mich. Ich kann mich absolut sicher in dieser Welt bewegen, bin in einem Rahmen von Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Interaktio­nen völlig aufgehoben. Dort funktioniere ich einfach, und niemand stellt so komplizierte Fragen wie du …

Jetzt, wo mir altersbedingt diese Arbeit genommen wird, fühle ich mich wie ein Teenager. Ich muss herausfinden, welchen Sinn mein Leben nun hat, was ich wirklich damit anfangen will. Aber darauf habe ich eigentlich überhaupt keine Lust!

JH: Ich nehme dich heute nicht anders wahr als damals in der Abiturklasse. Wie leidenschaftlich du auf die Welt zugehst, dass du eine gewisse Skepsis mitbringst – all das gehört ganz originär zu dir, mit all dem hast du etwas verwirklicht, das ich als großartig empfinde! Hab vielen Dank, dass du uns heute in deine Welt hast hineinschauen lassen.

Nach dem Gespräch holt Irene einen leckeren Salat für uns aus der Küche. Sie erzählt von ihren Abenteuern auf Faltboot-Touren und wir von unserem neuen Acker, auf dem wir eine Hecke pflanzen wollen. Das Bild des geheimen Palasts schwebt noch über uns und verbindet uns auf magische Weise.

Irene Wagner-Döbler (66), Biologin, war von 1985 bis 2018 am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung tätig und entwickelte eine preisgekrönte neue Technik zur Quecksilbersanierung. An der TU Braunschweig ist sie seit 2007 als außerplanmäßige Professorin tätig. Sie leitet die Arbeitsgruppe »Mikrobielle Kommunikation«.

Erschienen in Oya Ausgabe 52 (2019)