Kennen Sie Ihr inneres Alter? Vielleicht geht es nicht allen so, aber mit vielen Menschen teile ich das Empfinden, als gäbe es eine innere Instanz, die so gut wie nicht altert. Sie ist auch nicht erst herangewachsen, sondern war schon vor dem Augenblick des ersten Bewusstwerdens so alt. Bei mir sind das zweiundzwanzig Jahre. Als ich jünger war als das, strebte in mir etwas auf dieses Alter hin, als wüsste es, dass dies die Kreuzung meiner inneren Zeitlosigkeit mit dem Zeitstrahl des biologischen Verlaufs von der schäumenden Teilung der ersten Zellen zum Zerfall des auflösungswilligen Körpers sei, und als ich über zweiundzwanzig hinauswuchs, blieb dieses Etwas in mir erhalten wie ein wohlklingender Tinnitus des Herzens, ein gleichbleibender Grundton, der mal mehr, mal weniger deutlich zu hören ist, mal mahnend nervt, meist aber den übrigen Ereignissen einen sinnvollen Zusammenhang gibt, indem er ansonsten dissonante Töne zu Leittönen macht, die zu harmonischen Terzen, Quinten und Oktaven hinführen, jedenfalls noch die schrägste Schicksalslage mit Sinn begabt.

Mit zweiundzwanzig Jahren begegnete mir ein Mensch, der meinem – durch mannigfache Fluxus-Erfahrungen sowieso schon arg ausgebleichten – bürgerlichen Selbstbild den Garaus machte. »Es fuegt sich«, sang er, »do ich was von zehen jaren alt ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt. mit ellend, armuet mangen winkel, haiss und kalt hab ich gebawt bei cristen, kriechen, haiden.« Und erzählte die erste Autobiografie deutscher Sprache. Er hieß Oswald von Wolkenstein und war einer der größten Dichtersänger des Abendlands. Seine Biografie verfasste er mit achtunddreißig, und wer Anno Domini 1387 mit zehn Jahren von zu Hause auszog, Elend und Armut auf sich nahm, um die Welt vom Baltikum zum Bosporus, von Holland bis Spanien, von Arabien bis wieder heim auf die Seiser Alm in Tirol zu »besehen«, der zeigte mir als staunendem Entzifferer der spätmittelalterlichen Liederhandschrift die Zunge frecher als Einstein auf dem berühmten Foto. Er muss mit zehn innen schon vierzig gewesen sein. Seitdem gibt es für mich das »Kind« als minderes, erst »zu erziehendes« Wesen nicht mehr, und das »Alter« löste sich vom Chronos, der vergehenden Zeit, im Kairos, dem richtigen Zeitpunkt, auf.

Und viel später, mit neununddreißig, saß ich mit einem mir mehr als lieben Menschen meiner Familie auf einer Klippe hoch über dem Pazifik. Er war der deutschen Schule nach Kalifornien entflohen, ich hatte ihn in die Staaten begleitet, damit er unbehelligt durch die Passkontrolle kam. Ich fragte ihn, ob er noch drei Tage mit mir durch Kalifornien fahren wolle, bevor ich heimflöge und ihn mutterseelenallein in Amerika zurückließe – sein Wunsch und Wille. Er sah in die atemberaubende Ferne jenseits der türkisblauen Bucht und sagte: »Meine nächsten Schritte werden ohne dich sein.« Da war er vierzehn, und ich fühlte ihn innen als dreißig. Der Kairos ­verlangte respektvollen Abschied.

Seltsam, nicht wahr? Wie jung oder alt wir innen drin sind und bleiben, und wie dazu unangemessen wir uns benehmen, nur weil der äußerliche Zähler auf der Vier, der Achtundzwanzig oder bald Sechzig steht …

Fromme Frühlingswünsche!

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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