Was genau spielt sich im Gehirn eines fünfjährigen Kindes ab, das eine brutale Szene im Fernseher sieht? Wir sehen seinen zarten Körper vibrieren, die hochgewinkelten Arme vor die Brust gekrampft, die zusammengeklemmten Knie hochgezogen, die Füße nach unten verbogen, die aufgerissenen Augen ohne Lidschlag an den zweidimensionalen Bildschirm gefesselt. Und wir, die wir das Kind beobachten, spüren, wie sich aus dem Raum hinter dem Screen eine dumpfe Gussmasse in die reiche, vieldimensionale Innenwelt des Kindes wälzt, das Feine und Feinste darin erdrückt und sich an die lebensrot durchleuchteten Kelchwände der sich gerade erst entfaltenden Blüte des kindlichen Innenraums drängt, bis gar nichts Eigenes mehr darin Platz hat. Das Kind ist nur noch schematisches Spiegelbild des Opfers im Film – seinen Altersgenossen, die Zeuginnen und Zeugen derselben Szene sind, gleichgemacht –, und weil es nichts für das Opfer und sich selbst tun kann, ist sein Körper im Reflex embryonaler Krümmung erstarrt. Davonlaufen? Unmöglich: Vorangegangene ähnliche Erfahrung hat die Gier nach den körpereigenen Rauschmitteln bereits eingeübt, die das Mitempfinden beobachteter Angst, von Schmerzen und Todesgefahr anderer auslöst. Sich-Totstellen hilft in diesem Alter auch nicht mehr, denn man weiß ja längst, dass die Welt nicht verschwindet, wenn man sich die Hände vor die Augen hält und ruft, ich bin nicht da!

»Ist alles nur gespielt!«, kommt der erlöste Ruf, wenn endlich das letzte Ice‑Age-Mammut über den platten Körper von Scrat getrampelt ist, sich die Trickfigur wieder aufplustert und seiner Eichel nachhetzt, als sei nichts geschehen. – Lassen wir weg, dass solche Scheinerfahrung entwicklungspsychologisch und anderweitig als »nötig für die Ichbehauptung«, »triebkompensierend«, »gesund« begründet wird. Lassen wir weg, was wir Erwachsenen empfinden, nachdem wir uns einen blutigen Actionfilm voller Destruktion reingezogen haben. Bedenken wir für einen Augenblick ausnahmsweise – ganz ohne Moral, rein physiologisch! – nur dieses: Die Spiegelneuronen in unserem Gehirn, die uns die Aktion anderer Individuen, auch einer animierten Fantasie­figur, so mitempfinden lassen, als würden wir sie selbst ausführen – sind sie nicht biologische Garanten dafür, dass sich im Film beobachtete Aggression und Gewalt auf irgendeine Weise in die wirkliche Welt zurückspiegeln? Und die Epi­genetik, dernach die Umgebung, Erfahrungen unserer Mütter, sogar unser eigenes Denken die Chromosomen vererbbar umschalten – lehrt sie nicht, dass Fortbestand oder Ende von Macht- und Kriegsspiel von Eiweißstrukturen abhängen, die mit passiv erfahrener und aktiv gestalteter Kultur verzahnt sind?

Wollen wir trotz wachsender Kenntnis der Biologie – von Psyche oder gar Seele rede ich nicht! – unseres neuronalen und genetischen Apparats das Spiel mit subtiler und offener Gewalt in den visuellen Medien, die heute die zukünftigen Eltern unserer Enkel prägen, weiter betreiben? Sehen wir uns ernsthaft nach dem Ende der Welt, wie wir sie kannten, aus der Verkrampfung lösen und lachen: War doch alles nur gespielt!? – Sorry, ist bloß so ein Gedanke …

Einen schönen Sommeranfang! Immer Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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