Um 1970 prägte Johan Galtung den Begriff »strukturelle Gewalt« für »die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potenziell möglich ist.« Strukturelle Gewalt »ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen«. Seither wurde der Begriff in jede Richtung gewargelt, so dass er nun wie ein Nudelteig beliebig ausgezogen werden kann. Das hilft immerhin, Strukturen, die Quelle von Gewalt sind, noch dort aufzuspüren, wo man es nicht vermutet.

Eine davon ist das gute Gewissen. »Ego te absolvo« – ich spreche dich frei von deinen Sünden et cetera. So einfach war das damals, als ich mit kurzen Hosen und sauber gekämmt unter Herzklopfen meine ahnungslose Auswahl aus den Vergehensangeboten des katholischen Beichtspiegels (Habe ich ohne Not an Sonn- und Feiertagen knechtliche Arbeit verrichtet? Habe ich aus eigener Schuld die heilige Messe versäumt? Habe ich die heilige Messe ohne Andacht angehört? In der Kirche mich unehrerbietig benommen?) im muffigen Dunkel des Beichtstuhls heruntergehaspelt und Reue beteuert hatte. Das kurze Gemurmel des schattigen Gottesmannes hinter dem Flüstergitter machte frei, man trat in das dämmrige Kirchenschiff zurück, noch ein Vaterunser, und schon sprang man wieder im hellen Licht des Tages mit gutem, reinem Gewissen umher. Was immer man angerichtet hatte – es war alles wieder in Ordnung.

Die irrsinnige Beschleunigung, mit der der Kapitalismus den Wohlstand der Kolonisatoren emporgerissen hat, wird als die größte »Kultur«leistung gepriesen, die der Mensch (welcher?) je erbracht habe. Dass derselbe Kapitalismus dafür in demselben Tempo die reichsten Regionen der Erde in ärmste, von totaler Deprivation gezeichnete »Entwicklungs«länder verwandelt hat, steht nicht im Sündenregister. Im Gegenteil: Mit bestem Gewissen begibt man sich täglich, ordentlich gekleidet und mit gebürsteten Zähnen, auf die Piste des Erfolgs, glaubt an das Gute im Menschen und gibt seinen Zehnten für Ablässe in Form von Spenden an NGOs oder – gelegentlich – von Körperkraft gegen Bauzäune.

»Vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse«: Wieviele Menschen arbeiten für uns in Verhältnissen, die »den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzen, was potenziell möglich ist« – für all unsere Windmaschinen, Skypekonferenzen, Energiesparlampen, Pedelecs, Naturbaumwoll-Abhaltestrampler, Kunststoffplomben (pfui Amalgam!), Regioscheine, alles nach bestem Gewissen »grün«, »fair«, »nachhaltig«?
Wollen Sie’s wissen? Dann gehen Sie mal auf slaveryfootprint.org. Ich hab’s gewagt. Mit 32 Sklaven, die für meinen Lebensstandard malochen, bin ich noch unter dem Durchschnitt der westlichen Bevölkerung. Der liegt bei 38 Artgenossen, die keine Chance haben, ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse unbeeinträchtigt erfüllt zu bekommen, weil sie für je einen von uns schuften.

Nemo nos absolvit – da ist keiner, der uns freisprechen könnte …

Trotz allem: frohe Weihnachten!

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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