Die scheinbare Unveränderlichkeit nationaler Organisation wird durch eine Lähmung im Denken der ganz normalen Menschen aufrechterhalten. ­Dabei ist alles, wirklich alles veränderbar – in jede Richtung: Innerhalb weniger Tage ­haben sich 1942 »ganz normale Männer« (Christopher R. Browning) des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101, deren Aufgabe bis dato darin bestanden hatte, Menschen vor Verbrechen zu schützen, in Mörder verwandelt, die wenige Hundert Kilometer östlich von ihrer Heimat Tausende ganz normale Menschen – Frauen, Alte, Kranke, Kinder – an offene Gruben führten, um sie nacheinander, dicht hinter ihnen stehend, munitionssparend mit einem Pistolenschuss in den Hinterkopf so niederzustrecken, dass sie vornüber auf den die Grube langsam füllenden Berg toter und sterbender Menschenleiber stürzten.

Und manchmal dauert die Veränderung der ganzen Welt sogar nur so lange, wie man braucht, um zu sagen: »Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort – unverzüglich.« Exakt diese Wörter sprach Günter Schabowski auf der Pressekonferenz zum neuen DDR-Reisegesetz am 9. November 1989 gegen 19.00 Uhr versehentlich auf die Frage aus, ab wann das Gesetz gelten werde.

Wertungsfrei geselle ich diesen beiden Ereignissen eigenes Erleben hinzu: Früher war ich mit vielen Musikinstrumenten unterwegs. Meine Pro­bleme an den europäischen Grenzen lösten sich erst, als ich ein sogenanntes Carnet ATA nutzte. Damit konnte ich die Güter-Zollabfertigung passieren, und wenn der letzte der 24 Stempel auf das Formular geknallt worden war, durfte ich weiterfahren – kaum je wollte noch ein Zöllner einen Blick in die Kisten werfen.

Der Preis für diesen Vorzug bestand im Miterlebenmüssen der peinlichsten Erniedrigungen meiner Fernfahrerkollegen an den Schaltern. Vor allem die ­armen Burschen aus dem Balkan warteten ewig in ihren steifgeschwitzten Pullovern, aus denen Übermüdung und Diesel dünsteten, und verstanden die hingerotzten Fragen der Stempelmächtigen nicht, die hinter den Milchglasscheiben ihre Stullen aßen, Zeitung lasen, miteinander plauderten – und wehe, man klopfte ungeduldig: Gleich war der Platz eine Viertelstunde lang unbesetzt. Nichts konnte man gegen diese menschenverkrümmende Schande tun.

Zu Weihnachten 1994 musste ich nach Salzburg. Die Perfidie des Erniedrigungssystems im Zollamt Walserberg erschien mir geradezu auf die Spitze getrieben. – Wenig später passierte ich dieselbe Grenze als zollfreier Mensch: Österreich war am 1. Januar 1995 der EU beigetreten, und über Nacht hatten die Zöllner ihre Macht verloren. Europa war ein komfortablerer Ort geworden.

Seitdem beunruhigt mich ein Gedanke: Wäre ich damals etwa als Dissident einer Diktatur zum Tod verurteilt gewesen, und der letzte Zollbeamte hätte das Urteil zu vollstrecken gehabt – hätte er mich mit derselben Sicherheit über die unveränderliche Richtigkeit seines Tuns, mit der er die letzten Stempel seines und meines Lebens auf mein Carnet drückte, zu Silvester vor 24.00 Uhr noch erschossen, wenn diese Aufgabe auf seinem Dienstplan gestanden hätte?

Einen guten Jahresanfang wünscht Ihnen wie immer herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

Hier geht’s zu Oya Ausgabe 30