In der Endphase unseres stultistischen Zeitalters (lat. stultus, dumm) kümmert sich keine andere Regierung auf dem Erdenrund intensiver um das Wohl ihrer Untertanen als die Nachfahren von Kaiser Shi Huang aus Qin. Im Vergleich zur Verkommenheit manch anderer heutiger Staatenlenker glänzt die chinesische Meritokratie: Nur diejenigen, die sich größte Verdienste um das Volksganze erworben haben, werden von ihresgleichen mit der Ehre bedacht, dem Riesenreich vorstehen zu dürfen, einer davon – für Westlerohren sogar mit ähnlich klingender erster Namenssilbe – demnächst wie sein gottgleicher Vorfahr auf Lebenszeit. Allerdings: Mussten Ersterem nur die Konkubinen, die ihm keine Kinder geboren hatten, in den Tod folgen, so steht zu befürchten, dass Letzterer zum Verderben eines nicht unerheblichen Teils der Menschheit nicht unwesentlich beigetragen haben wird, so er dereinst sein Mausoleum bezieht. Beide Herrscher haben vieles gemein – etwa die Förderung eines gigantischen Baubooms und einen irrwitzigen Verbrauch von materiellen und humanen Ressourcen –, doch statt Millionen von Schlachtenopfern, die Qin Shi Huangdi metzeln musste, um sein Reich für die Ewigkeit zu sichern, benötigt Xi Jinping 2200 Jahre später nur die Hilfe der Künstliche-Intelligenz-Industrie, um sein Volk – solange es noch geht – zur anständigen, korrektgewichtigen und leicht regierbaren Masse zu formen: Die Zusammenführung von Informationen aus Verwaltung (z.B. biometrische Passbilder), Konsumindustrie (z.B. Einkaufsvorlieben) und den freiwillig preisgegebenen Intimitäten aus den euphemistisch »sozial« genannten Smart-Medien mit Bewegungsdaten aus ebenjenen und den zunehmend elektrisch fahrenden Computerautos sowie aus gesichtserkennenden Überwachungskameras an Ampeln, Supermarktkassen und Bahnsteigen – Denunziation nicht zu vergessen! – im Rahmen eines »Sozialkredit«-Systems macht’s möglich. Die für gutes Benehmen erworbenen oder für Dissidenz abgezogenen Punkte auf dem persönlichen »Sozial«konto entscheiden über Kreditwürdigkeit, Berufschancen und Akzeptanz im Bekanntenkreis, bei Wohnungsvergabe, Partnerwahl und so fort. Wie bei George Orwell gelernt, rühmt sich der Staat, das Ganze geschehe aus Liebe zu seinen Bürgerinnen und Bürgern, alles werde transparent gehandhabt und diene allein dem Gemeinwohl – und 1,4 Milliarden Menschen lassen es mit sich geschehen, ohne zu revoltieren! – Das glauben Sie nicht, oder Sie denken, das seien nur Planspiele? Geben Sie in Ihre bevorzugte Suchmaschine z.B. »Sozialkredit Rongchen« ein, und lesen Sie aufmerksam, was bereits in einigen Metropolen Chinas Realität geworden ist und bis 2020 im ganzen Land eingeführt sein wird.

Abgesehen von dem heimlichen Vergnügen, das mir die Vorstellung bereitet, was für ein blühender Schwarzmarkt für die grandiosesten Hacks sich da bald auftun wird, frage ich mich, ob sich aus dem Wissen über diese Vorgänge irgendetwas Wesentliches saugen ließe, etwas, das für mein kleines mitteleuropäisches, zum Verzicht auf die Nutzung all dessen, was in den totalen Überwachungsstaat führt, bereites Leben relevant sein könnte. Kürzlich hörte ich jemanden sagen, so etwas sei in einer Demokratie wie der unseren undenkbar. Da regte sich tiefer Zweifel in mir, und gerade denke ich, es könnte wesentlich sein, diesen Zweifel unter denen, die an ein gutes Leben nach dem Kollaps glauben, zu säen.

Kommen Sie gut in den Frühling! Herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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