Wer oder was spricht eigentlich mit wem oder was, wenn sich zwei physische Manifestationen, denen »wir« die Bezeichnung »Mensch« gegeben haben, gegen­übersitzen und beginnen, gemeinsam über etwas nachzudenken oder sich gegenseitig etwas darüber zu erzählen, was das jeweilige »Ich« im bisherigen ­Dasein so getan hat? Die Physik gibt uns auf diese Frage schon seit hundert Jahren die unfassbar erscheinende Antwort: Ein »Ich« gibt es genauso wenig wie alles andere, das uns als »feste« Welt erscheint. »Wir« sind in Wirklichkeit unendlich ineinander verwobene Energie-Ereignisse ohne Sub­stanz. Was wir als Gestalten wahrnehmen, sind phantomartige Hüllen, die etwas Unsagbares, vielleicht in Formeln erahnbares Wirkendes umschließen. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr sagte dazu »Lebendigkeit«, und was uns als fest und stofflich erscheint, sei in Wirklichkeit ein »verschmierter« und »flacher« Widerschein des beziehungsreichen Zusammenspiels von »Wirks« und »Passierchen«. Er vermied es, von »Teilchen« zu sprechen, und ließ als Bezeichnung für jenes sich ständig wandelnde Beziehungsgefüge höchstens das Wort »Geist« zu. »Lebendigkeit« – das ist etwas ganz Andersartiges als das, was wir uns in unserem durch die Erfahrung von fester Stofflichkeit und Mechanik konditionierten Denken vorstellen können. Wir haben keine Übung darin, in dieser Wirklichkeit zu sein. –

Gelegentlich erwärmt uns bei solchen Gesprächen Auge in Auge die Entdeckung, dass wir uns in der Pupille des Gegenübers spiegeln, und manchen jener »Mensch« genannten Energie-Ereignisse gibt das Grund zu der roman­tischen Idee, »sie« oder »er« würde sich »im Anderen selbst erkennen«. Tatsächlich aber spiegele »ich« »mich« in einem Auge, das mich anblickt, nicht: Ein paar »Wirks«, die in einer bestimmten Frequenz schwingen, zu der wir »sichtbares Licht« sagen, gehen von dem Energie-Ereignis namens »Ich« aus und interagieren mit den Wirks im Film aus Tränenflüssigkeit über der fremden Pupille. Diejenigen Licht-Wirks, die wieder in »meinen« biologischen Sensor namens Auge zurückschwingen, wirken mit den Passierchen in »meinem« Sehorgan derart zusammen, dass schließlich im Gehirn ein ganz und gar materieloser Eindruck von einer scheinbar physisch vorhandenen »Person« namens Irene, Gudrun, Raffael, Guido entsteht. – Ist denn diese Person, wenn wir sie anfassen, hören, riechen, nicht wirklich stofflich und da wie alles andere, worüber wir übereingekommen sind, es für eine wirklich daseiende »Welt« zu halten? Beweist denn nicht allein, dass ich mich an ihr schmerzhaft stoßen kann, dass die Welt tatsächlich da ist?

Lange schon fühle »ich« – das Energie-Ereignis, das »mich« erschwingt – einen Anruf, das herrschende Menschen- und Weltbild so weit zu ­dekonstruieren, dass »wir« zuerst uns selbst und dann die ganze übrige »Welt« als aus dem Gleichen bestehende (homogene), in- und miteinander verschränkte (kohärente) und überall auf gleiche Art wirkende (isotrope) Lebendigkeit zu verstehen ­lernen. Diese folgt keinem Reiz-Reaktions-Muster, keiner Kausalität, sondern ist die reine Potenzialität – die Fülle dessen, was möglich ist. Dem werden »wir« wohl nur gerecht, wenn wir uns in einer Haltung des liebevollen Nicht-Wissens üben.

Wer oder was »bin« ich dann? Ich weiß es nicht – aber es ist nicht egal! Und wer oder was spricht da mir gegenüber? Ich weiß es nicht – aber es ist nicht egal!

Einen schönen Spätwinter wünscht Ihnen

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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