Freiheit von etwas und Freiheit für etwas – das eine unterscheidet sich vom ­anderen nur durch drei kleine Buchstaben. Für die Entfaltung des Gemeinsinns jedoch ist der Unterschied von eminenter Bedeutung: Ich muss nicht von etwas frei sein, um für etwas frei zu sein. Unter den Momenten, in denen ich das erfahren habe, stechen besonders die Minuten hervor, die ich in jenem Kellerloch verbringen durfte, das als »Hungerbunker« von Block 11 im Stammlager Auschwitz schmerzhafte Berühmtheit erlangt hat: Der inhaftierte Pater ­Maximilian Kolbe hatte sich angeboten, anstelle eines verzweifelten Familienvaters zusammen mit neun weiteren Gefangenen in den Tod zu gehen. Lagerkommandant Karl Fritzsch hatte das zehnfache Hungermartyrium zur Vergeltung der erfolgreichen Flucht eines KZ-Häftlings angeordnet. Ohne Aussicht auf körperliche Freiheit und aller Rechte beraubt war Kolbe so frei, seine Leidensgenossen zu trösten und ihr qualvolles Sterben seelsorgend zu begleiten. Als nach vierzehn Tagen die Todeszelle geöffnet wurde und er noch nicht verhungert und erstickt war, wurde sein für das Gute freies Leben mit einer Phenolspritze beendet, am 14. August 1941.

Solche und ähnliche Mahnbilder kommen mir derzeit in den Sinn, wo so viele Mitglieder einer der freiesten Gesellschaften der Erde – ja, das ist die deutsche Gesellschaft! – die Einschränkung ihrer Freiheitsrechte beklagen. Ich bin beileibe nicht davon überzeugt, dass unsere freiheitlich-demo­kratische Grundordnung das Gelbe vom Ei ist. Mehrmals habe ich in Oya dargelegt, dass ich eine essenziell andere Form von »Demokratie«, nämlich eine commonisch organiserte, herrschaftsfreie Konsensgesellschaft (Commonie) bevorzuge. Dennoch erkenne ich an und bin dankbar für das – im Weltmaßstab gewaltige – Privileg, dass ich mich hier, im Rahmen garantierter Rechtsstaatlichkeit, »frei von« Unterdrückung, Verfolgung und Krieg »frei für« die geduldige Mitwirkung an der Festigung einer solchen Post-Kollaps-Vision entscheiden und einsetzen kann.

In meiner von Unterdrückung und Entrechtung freien Entscheidung für das Gemeinschaft­liche bin ich seit ihrer Vorlage bei der UNO im Jahr 1997 stets mehr der Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten (www.interactioncouncil.org) zugeneigt als der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zwar ist die Betonung der unveräußerlichen Rechte der Menschen eine der bedeutendsten aufklärerischen Leistungen der Völkergemeinschaft. In Zeiten aber, in denen der ungebremste Narzissmus der in der Folge hierzulande entstandenen Individual­gesellschaft zu verdrängen scheint, dass jedes Recht durch eine entsprechende Pflicht austariert wird, bedaure ich, dass das Wort »Pflicht« explizit nur einmal in der Menschenrechtserklärung vorkommt. Der vorletzte Artikel 29 beginnt mit dem Satz: »Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.« Niemand ist also frei von allem; um unsere Persönlichkeiten frei und voll entfalten zu können, müssen wir innerlich frei für die Erfüllung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft sein. Wie soll das denn nach dem Kollaps mal werden, wenn alle nur auf ihre Rechte pochen und das Gefühl, einander – und zwar aller einander – verpflichtet zu sein, weiter so abschmilzt, wie es seit einigen Jahren zu beobachten ist?

Mit den besten Wünschen für eine besonnene Mittwinterzeit,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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