Johannes Heimrath sprach mit Silke Weiß und Corina Nitzsche über die Dynamik von Veränderung, die das Bildungssystem in Deutschland ergriffen hat.

Johannes Heimrath: Silke, du hast bei uns im Klanghaus von Klein Jasedow gerade das letzte Modul der von dir geleiteten Weiterbildung »LernKulturZeit« zu Ende gebracht. Fühlst du dich wohl mit deiner Arbeit?

Silke Weiß: Ja, sehr. Ich bin viel unterwegs, aber das ist auch gut so. Zur Zeit fühle ich mich in der Lebensmitte angekommen, blicke manchmal zurück und frage auch, was noch kommt. In der Zeit, nachdem ich meinen Beruf als Lehrerin an der Schule hinter mir gelassen habe, habe ich sehr viel getanzt. Manchmal frage ich mich, warum ich eigentlich nicht Tänzerin bin, mich den ganzen Tag dem Körper widme, mit anderen Tanzprojekte mache und so weiter. Das ist zwar eine schöne Vorstellung – aber es wäre nicht das Feld, in dem ich am kreativsten sein kann, wofür ich wirklich brenne.

Wenn ich mit einer LernKulturZeit-Gruppe arbeite, kann ich forschen, wie Lernen geschieht, wie jede und jeder an seinen Platz findet, wie sich zeigt, was in den Menschen steckt. Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, ist das Bildungssystem ein entscheidender Akupunkturpunkt. Dort anzusetzen, dafür brennt mein Feuer.

JH: Corina, was brennt in dir?

Corina Nitzsche: Ich habe Gymnasiallehrerin für die Fächer Kunst und Sport studiert. Nach dem Referendariat war ich lange auf Reisen, weil ich nicht wusste, ob der Beruf für mich das Richtige ist. Aber dann habe ich mich doch dazu entschlossen, an die Schule zu gehen. Ich bekam das Gesamtpaket – eine Vollzeitstelle mit Verbeamtung. Damit ist es nun vorbei: Gestern habe ich meine Entlassungsurkunde abgeholt. Das Zwischenmenschliche stimmte für mich nicht, deshalb bin ich gegangen.

JH: Was hat dich am Anfang dazu motiviert, diesen Beruf zu wählen?

CN: Wenn ich so weit zurückgehe, muss ich zugeben, dass es vielleicht keine gesunde Entscheidung war. Eigentlich wollte ich Tischlerin werden. Weil ich aber Allergien hatte, riet man mir davon ab. Mein bester Freund überredete mich dann zu einem Lehramts-Studium nach dem Motto »Du kannst doch so gut mit Kindern umgehen! Die Welt braucht gute Kunstlehrerinnen!«. Meine Fächer Kunst und Sport habe ich mit Leidenschaft studiert, aber ich habe während des Studiums nicht begriffen, was es heißt, im Unterricht mit so vielen Menschen gleichzeitig in Beziehung zu sein.

JH: Was fandest du schwierig an dieser Beziehung?

CN: Ich stand vor einer Klasse mit lauter wunderbaren Wesen, die sich ausdrücken wollten, die aber auch schon in ihrer Grundschulzeit gewisse Verletzungen erfahren hatten. Das hat unsere Begegnung erschwert. Mit den Jahren werden die Schüler immer müder, das macht mich traurig. Im letzten halben Jahr habe ich in einer Projektklasse gearbeitet, in die fünf bis sechs sogenannte verhaltensauffällige Kinder hineingenommen wurden. Das ist eigentlich ein schöner Gedanke, aber er wird missbraucht, denn es gibt nicht genügend Zeit und Raum, sich diesen Menschen zu widmen. Beim Versuch, die Situation sinnvoll zu gestalten, bin ich gegen Mauern gerannt, es wurde sehr schnell sehr eng.

Wenn ich jetzt die Schule verlasse, heißt das nicht, dass ich ihr ganz und gar den Rücken zukehre. Vielleicht komme ich ja in einigen Jahren zurück und habe einen anderen Werkzeugkoffer dabei.

JH: Da frage ich mich: Warum sollten wir unseren Werkzeugkoffer besser ausstatten, damit wir erfolgreicher mit einem System umgehen können, das nachweislich Menschen beschädigt? Kolonisiert uns dieses System so sehr, dass wir es nicht mehr an der Wurzel in Frage stellen können, sondern meinen, ihm etwas geben und dafür die eigenen Fähigkeiten verbessern zu müssen?

SW: Die Metapher mit dem Werkzeugkoffer trägt für mich auch nicht. Sie erinnert mich daran, dass derzeit das Thema Achtsamkeit so hochgespielt wird, nach dem Motto »Meditieren wir doch alle, fahren wir die Stress-Symptome herunter, dann halten wir den Wahnsinn besser aus!«. Diese Haltung finde ich bedenklich, da sie Meditation utilisiert. Interessanterweise scheint es aber nicht zu funktionieren: Einer Studie zufolge werden Lehrerinnen und Lehrer, die Achtsamkeitskurse absolviert haben, mit ihrer Arbeit noch unzufriedener als vorher. Sie nehmen stärker wahr, wie es ihnen und ihren Schülern geht, wollen Räume schaffen, in denen sich eine gesunde Beziehung entwickeln kann. Sie wollen sich nicht mehr ruhigstellen lassen. Viele kommen an den Punkt, wo sie sagen: Ich nehme das nicht länger hin, ich verlasse das System oder ändere etwas an meiner Schule.

JH: Wieviel Spielraum gibt es deiner Meinung nach für Veränderung?

SW: Wenn der Leidensdruck groß genug ist, fängt es an allen Ecken und Enden an.

JH: Was aber ist mit der oberen Ebene, den Kultusministerien? Dort scheint es mir keine große Bereitschaft dafür zu geben, grundsätzlich neue Wege zu gehen.

SW: Es flackern überall Feuerchen im System. Da gibt es nicht nur die Lehrerinnen und Lehrer, die krank werden, sondern auch die müde Schulleiterin oder den müden Referenten für Lehrerfortbildung. Die Suchbewegung ist groß: Wie kommen wir da heraus? Wenn alle auf der Suche sind, verändert sich hoffentlich auch das gesamte System.

JH: Ja, das ist der Traum. Aber sind tatsächlich so viele bereit, sich zu bewegen? Corina, warst du an deiner Schule die einzige, die gekündigt hat?

CN: Ich habe den Eindruck gewonnen, dass auch meine Kolleginnen und Kollegen nicht glücklich sind. Die meisten sind über 40 Jahre alt, viele von ihnen arrangieren sich mit der Situation. Mit der Zeit passen sich auch die jüngeren an; schließlich gibt der Arbeitsplatz an der Schule ihnen auch Sicherheit. Alle versuchen, im Kleinen etwas Positives zu gestalten – aber das führt dazu, dass alle hinter verschlossenen Türen ihr Ding durchziehen. Andererseits war ich erstaunt, wie offen viele waren, wenn ich im Gespräch an emotionale Punkte herankommen konnte, auch mit der Schulleitung und Leuten aus dem Schulamt. Wenn ich nachgehakt und kein Blatt vor den Mund genommen habe, ohne in Anschuldigungen zu verfallen, bin ich auf viel Verständnis für meine Kritik und meinen Weg gestoßen.

JH: Und dann? Die Menschen bleiben weiterhin hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Du konntest sie berühren, aber hätte es auch so weit gehen können, dass ihr gemeinsam aufgestanden wärt und beschlossen hättet: So machen wir hier alle nicht mehr weiter? Wenn das nur zehn Prozent ernsthaft täten, hätte das auf das gesamte Feld Auswirkungen. Aber du warst an der Schule offenbar die einzige, die zu einem radikalen Schritt bereit war.

SW: Um ein System zu verändern, brauchst du sowohl die politische Seite als auch einen inneren Wandel. In den letzten Jahren wurde versucht, viel im Außen zu verändern: Zeiten flexibler zu gestalten, offene Unterrichtsformen einzuführen und so fort. Wenn sich allerdings die Haltungen nicht ändern, zum Beispiel die Einstellung »Ich als Lehrerin weiß, was am Ende der Stunde herauskommen soll!«, ist es nicht nachhaltig. Veränderungen müssen beides umfassen – die äußeren wie die inneren Strukturen. Der Rahmen müsste ermöglichen, dass Beziehung entsteht. Es sollte ein Recht darauf geben, sich mit Dingen zu beschäftigen, die brennend interessieren.

JH: Du hast gesagt, das Bildungssystem sei ein Akupunkturpunkt. Mir kommt es eher vor wie das Rückgrat der Gesellschaft. Ich frage mich, wie eine nicht-nachhaltige Gesellschaft ein bestimmtes Segment – die Schule – enkeltauglich gestalten soll, ohne dass die anderen Gesellschaftsbereiche mitziehen.

SW: Das System ist vielleicht mit einem riesigen Dampfer vergleichbar. Aber da sind schon eine Menge kleiner Boote, die Taue daran festgemacht haben und versuchen, ihn auf einen anderen Kurs zu bringen. Dazu ist ein langer Atem erforderlich.

JH: Und viele Boote sind nötig. Eine Studie sagt, dass ein Schwarm nur dann seine Richtung ändert, wenn dies zehn Prozent der Individuen tun. Damit es so weit kommt, müssen die Pioniere, die den Wandel anstoßen, durch alle Phasen eines Paradigmenwechsels gehen: Erst wirst du lächerlich gemacht, dann bekämpft – aber wenn du das durchstehst, gibt es eine Chance, dass das System kippt. Die Frage ist nur, wieviel Zeit wir uns geben? Haben wir in 20 Jahren vielleicht sieben Prozent erreicht und in 30 Jahren neun Prozent?

SW: Schwer zu sagen. Die politische Arbeit ist nicht das Feld, in dem ich zu Hause bin. Ich kann besser mit Menschen an inneren Prozessen arbeiten, kann sie zu Fragen führen, wie: Wer bin ich, was will ich wirklich? Vielleicht gibt es effektivere Wege für den Wandel, aber wir alle können nur das tun, was uns entspricht. Du hast deinen Platz an einer anderen Stelle – wir können uns nur gegenseitig ermutigen, unser authentisches Wirkungsfeld zu finden, dann sind wir bei echter Potenzialentfaltung angelangt.

JH: Ja, wir brauchen Diversität; nur viele verschiedene Organismen schaffen ein lebendiges Soziotop! – Wie aber entstehen denn die Gelegenheiten, wo Menschen erkennen, wie wesentlich auch der »politische Arm« des Weltwandels ist?

CN: Meine Gedanken führen immer mehr weg von Schule und hin zu altersübergreifendem Lernen im »wirklichen« Leben. Während der LernKulturZeit kam bei mir die Idee auf, mit meinem Partner zusammen eine Karawane ins Leben zu rufen – mit einem Wohnwagen anzufangen und an Orte zu gehen, wo auf eine gute Weise gelernt wird, aber auch auf Marktplätze, um mit Passanten über menschenfreundliche Bildung zu diskutieren. Mit der Zeit gesellen sich vielleicht noch mehr Leute dazu, so dass tatsächlich eine bunte Karawane entsteht, die sich in Neuland wagt.

Ich habe mich umgesehen, welche Wander- oder Reiseprojekte es in der Bewegung für einen Wandel im Bildungswesen schon gibt, und das ist erfreulich viel: Die Funkenflieger wandern, und »Edu on Tour« besucht alternative Schulen und Studienorte in ganz Europa. Ich muss mir also gar nicht alles alleine ausdenken.

JH: Ja, so eine Karawane ist eine Möglichkeit, Brücken zu schlagen. Ihr bringt das Thema fort von dem Ort, wo es kleingehalten und vom Schulalltag immer wieder überdeckt wird, und stellt es in einen größeren Zusammenhang.

SW: Das System ist so festgefahren, dass sich alle nach Bewegung sehnen. Das drückt sich darin aus, dass die Menschen sich auch physisch auf den Weg machen. Auch unsere LernKulturZeit-Module haben bewusst an verschiedenen interessanten Lernorten stattgefunden. Ich fände es großartig, mit einer Karawane ein Jahr lang unterwegs zu sein und überallhin zu fahren, wo spannende Menschen sind, sich mit ihnen zu unterhalten, Impulse zu geben, zu bekommen – und auch mal auf die Straße zu gehen, auf die Pauke zu schlagen und etwas ganz Buntes zu tun – vielleicht tanzen.

JH: Wie viele der 19 Menschen, die bei LernKulturZeit teilgenommen haben, waren eigentlich Lehrerinnen?

CN: Erstaunlicherweise waren nicht sehr viele dabei, die noch eine aktive Rolle in einer Schule innehaben. Zwei Lehrerinnen waren in der Gruppe und einer, der sein Referendariat abgebrochen hat.

SW: Eine Teilnehmerin hatte zuvor Menschen in einem Freiwilligen Ökologischen Jahr begleitet, zwei arbeiten als Musiklehrer – die Zusammenstellung wechselt jedes Jahr, aber alle haben mit Bildung zu tun und vermuten, dass an der heutigen Art des Lernens etwas nicht stimmt.

JH: Es sind wohl nicht unbedingt die Lehrerinnen und Lehrer, die von innen viel Veränderung auslösen können. Mein Eindruck ist, dass Außenstehende ein größeres Drehmoment erzeugen. Eine von unserem Landkreis initiierte Arbeitsgruppe, an der ich teilnehme, hat für unsere Region einen ehrgeizigen Bildungsentwicklungsplan aufgesetzt. Wir wollen nicht weiter hinnehmen, dass die Schulen kaum etwas dazu beitragen, dass junge Menschen in unserer strukturschwachen Region Eigeninitiative entwickeln. Auf Kreisebene wird dazu eine intensive Debatte geführt. Unsere Strategie ist inzwischen, um die bestehenden Schulen herum eine so blühende Bildungslandschaft zu schaffen, dass sie irgendwann nachziehen. Die Frage ist freilich, wann das alte System merkt, dass es dabei mit Viren infiziert wird, die gefährlich werden könnten. Es wird sich zur Wehr setzen.

SW: Irgendwann wird es sich transformieren; es ist so nicht zukunftsfähig. Mit den Satelliten, die wir darum herum setzen, zeigen wir Möglichkeiten für Alternativen. Die Dorfschule in der Gemeinschaft Tempelhof ist für mich so eine Alternative, die auf einem guten Weg ist: Schule im Dorf oder Dorf als Schule, Stadt als Schule, außerhalb eines festen Gebäudes – das ist die richtige Richtung.

JH: Tempelhof ist ja auch so ein Kultur-Rettungsboot – Teil der kleinen Flotte in deinem Bild mit dem Dampfer.

SW: Wie wäre es, die Leute von diesem Dampfer herunterzuholen, statt ihn wenden zu wollen? Wie großartig muss es für sie sein, in wendige Schnellboote zu wechseln, nachdem sie so lange Zeit mit dem schwerfälligen Koloss gefahren sind.

CN: Bei mir passiert das ja gerade, mein ganzes Leben ändert sich! Ich spreche von einer verrückten Idee wie der Karawane, und schon wollen viele Leute mitmachen oder laden uns ein. In kürzester Zeit tun sich neue Felder auf. Auch das Feedback von den Eltern meiner alten Schule ist schön. Ich habe dem Elternrat einen langen Abschiedsbrief geschrieben mit der Botschaft: Hört auf zu fordern, was Schule leisten soll, sondern werdet selbst aktiv!

SW: Ich werde inzwischen auch vom Schulamt eingeladen und arbeite dort mit Menschen aus der Lehrerfortbildung. Auch wenn ich nur drei Stunden dort bin, entzünden sich oft kleine Feuer. Dann merke ich, dass auch an Stellen, wo es etwas zu entscheiden gibt, Leute in den Startlöchern stehen. Mich beschäftigt noch die Frage, wie wir trotz des klaren Bekenntnisses zum Wandel auch denjenigen, die im System bleiben, Wertschätzung entgegenbringen können – die gegen Mauern laufen, es aber jeden Tag neu versuchen.

JH: Sie kommen mir vor wie Sanitäter im Krieg. Selbstverständlich bringt man ihnen Wertschätzung für ihre aufopferungsvolle Aufgabe an der Front entgegen, aber die Frage ist doch, warum es überhaupt Krieg gibt.

SW: Ob sich die Sanitäter und die Soldaten vorstellen können, dass es ein Leben ohne Krieg gibt? Wenn du jeden Tag Leid siehst, kannst du bald nicht mehr anders, als dich innerlich zu verschließen, sonst kannst du deinen Job nicht machen. Wenn ich das aber an mich heranlasse, meine Gefühle zulasse, kann ich auch sagen: Stopp, Aufhören, Schluss damit!

CN: Ich möchte in Zukunft in Kontakt mit dem sein, was in mir ist, und in Kontakt mit anderen geraten. Im Kontakt springen die Funken über. So stelle ich mir unsere Karawane und viele andere Initiativen für ein lebensförderndes Bildungswesen vor: dass wie bei einem Lauffeuer die Funken von einem zum anderen überspringen.

JH: Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis es zu einer so starken Dynamik kommt! Habt vielen Dank für das offene Gespräch.

Silke Weiß (44) schafft Räume für Beziehungskultur und Potenzialentfaltung. Sie leitet die »LernKulturZeit« und begleitet Institutionen in der Entwicklung. Zwei erwachsene Töchter inspirieren sie.
www.lernkulturzeit.de

Corina Nitzsche (31) hat sich vom Lehrerdasein verabschiedet, um gelernte Methoden und Denkweisen über Bord zu werfen. Mit einer Karawane will sie sich in Bewegung setzen, um ein Neudenken erfahrbar zu machen.

Erschienen in Oya Ausgabe 31 (2015)