Die kulturell Kreativen, der LOHAS-Markt und die Rettung der Welt

Artikel für den »Spirituellen Taschenkalender« 2007, Hsg. Wolfgang Bartolain

Kann die Welt gerettet werden? Die Hoffnungen aller Gutmenschen richten sich auf einen Trend, den der Zeitgeist anzukündigen scheint: den Wandel. Der Impuls für den Wandel kommt aus der Zivilgesellschaft. Bürgerinnen und Bürger auf allen Kontinenten ermächtigen sich selbst und gegenseitig, ihr unmittelbares Umfeld aktiv zu gestalten, und zwar gründlicher und umfassender als zu Zeiten der Bürgerinitiativen. Denn es geht mehr und mehr ums Ganze – und das scheint mehr und mehr Menschen bewusst zu werden.

Dieser Trend hat ein soziologisches Phänomen hervorgebracht, das in den USA Mitte der 90er-Jahre entdeckt und benannt wurde und inzwischen auch in Europa Aufmerksamkeit erweckt: die sogenannten kulturell Kreativen. Dabei wird Kreativität nicht im Sinn von musikalisch, künstlerisch etc. verstanden. »Kulturkreativ« bedeutet, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen in sämtlichen Gebieten aktiv und schöpferisch zu antworten und somit eine neue Kultur zu schaffen. Das geht auch weit über die »kreative Klasse« von Richard Florida hinaus, der den »Kreativen« in der Ökonomie eine Hausse voraussagt.

Gemeinsame Kennzeichen dieser neuen Bevölkerungsschicht sind unter anderen

• Interesse an Selbstverwirklichung,
• Wertschätzung von Beziehungen,
• eine ökologische Lebensweise und
• engagierte Anteilnahme an der Welt,
• Offenheit für fremde Kulturen und neue Ideen sowie
• für die Transformation der Geschlechterrollen. Hinzu kommt ein
• Bemühen um eine reflektierte Spiritualität.

Abgelehnt werden unter anderem

• die Intoleranz der religiösen Rechten,
• der gedankenlose Hedonismus der kommerziellen Medien und
• die skrupellose Umweltzerstörung im Namen des Big Business.

In Deutschland brachte die im Jahr 2000 gegründete »Mediengruppe Kulturell Kreative« das kulturkreative Konzept in Umlauf, und seit 2004 bemüht sich eine internationale Forschungsgruppe unter der Schirmherrschaft des Club of Budapest um die Durchführung nationaler Studien zur Dynamik dieser Entwicklung. Daran beteiligt sind derzeit Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien, Frankreich, die Niederlande, Norwegen und Japan. Die ersten Zahlen aus Italien, Frankreich und Ungarn lassen eine vorsichtige Prognose zu: 30 Prozent, also rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung ist nicht mehr bereit, traditionelle und modernistische Gesellschaftskonzepte bedingungslos mitzutragen.

Das erscheint viel und hat vorschnell zu mancher euphorischer Reaktion geführt. Die Zahlen wollen jedoch richtig gelesen werden – und da zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild. Es stimmt: Eine überraschend große Zahl Europäerinnen und Europäer sind dabei, ihr Weltbild zu wandeln, tradierte Formen ohne werthaltige Inhalte hinter sich zu lassen und sich vom blinden Fortschrittsglauben zu verabschieden. Doch reicht dies schon aus, den Wandel zu einer fundamental erneuerten Kultur zu bewerkstelligen? Mit Recht wird von kritischen Sympathisanten auf die US-amerikanische Gesellschaft verwiesen: Wo sind sie denn, die vielen »Cultural Creatives«, deren Anteil an der amerikanischen Gesellschaft Paul Ray, der Urheber der seinerzeitigen Studie und Präger des Begriffs, 1995 schon mit 25 Prozent angegeben hatte? Müssten wir bei einer derart großen gesellschaftlichen Gruppe nicht deutliche Auswirkungen in Politik und Wirtschaft sehen?

Angeblich waren die kulturell Kreativen im Jahr 2004 für 500 Milliarden Euro Umsatz weltweit gut. Wo aber schlägt sich dieser Konsum in einer gewandelten Wirtschaft nieder? Sind dafür wirklich nachhaltige Produkte gekauft worden? Macht sich die gesündere Lebenshaltung und das Bemühen um eine sozialere Welt schon im Gesundheitswesen bemerkbar?

Der Wunsch, die Welt, so wie wir sie lieben, möge noch eine Chance haben, ist groß und berechtigt. Und sicher ist, dass auf diesem Globus ein epochaler Wandel eingesetzt hat. Das globale Klima ändert sich unwiderruflich, die ökonomische Dynamik hat neben einer rasant zunehmenden Spaltung der Gesellschaften in Arme und Reiche gewaltige Migrationsprozesse in Gang gebracht, und militärische Macht – von keiner Bürgermehrheit autorisiert – verschiebt die politischen Kräfteverhältnisse in ein neues, von Gier, Glauben und Emotionen beherrschtes Spannungsgefüge. Von einem kreativen Wandel der Kultur ist in der Breite nichts zu sehen. Stimmen die 30 Prozent etwa nicht?

Die 30 Prozent beziffern ein Gesamtpotenzial, das erst in der Differenzierung eine Schätzung zulässt, welchen Einfluss die Gruppe der kulturell Kreativen auf den Wandel tatsächlich hat. Wir haben vier Stadien ausgemacht, in denen sich das kulturkreative Potenzial manifestiert. Sie folgen den Phasen, in denen sich ein Wandel generell vollzieht:

1.) Latenzphase:

Menschen erkennen: »Irgendetwas läuft falsch.« Sie erleben sich, ihre Umwelt, ihre Familie, ihre Firma, ihre Region oder den ganzen Planeten in einer Krise. Die Sinne werden wach, man ist alarmiert und bereit, die Notbremse zu ziehen.

2.) Phase der Neuorientierung:

Man hat angehalten und weiß nun nicht, wohin. Die Analyse führt zum Ausschluss bisheriger Fehler und eröffnet eine Auswahl von neuen Optionen: »Warum sollte ich es nicht mal ganz anders probieren?« So begegnet man zum ersten Mal z.B. dem »spirituellen Taschenkalender« und kauft ihn, um sich in neue Gedanken einführen zu lassen.

3.) Einüben neuen Verhaltens:

Das Schlagwort »Jute statt Plastik« steht für die Phase, in der man z.B. den »spirituellen Taschenkalender« abonniert hat. Die alten Maßstäbe sind ausgetauscht, »bessere« Verhaltensmodelle werden erprobt und eingeübt. Szenen bilden sich, in denen Gleichgesinnte sich über die neuen Regeln austauschen.

4.) Integration und Authentizität:

In der neuen Rolle entdeckt man seine neue Mitte und die eigentliche Aufgabe. Aus übernommenem Verhalten wird ein durchseeltes Handeln, Bücherwissen wird von Erfahrungswissen abgelöst, Lauflernhilfen werden abgelegt, neue Wege, sich authentisch auszudrücken, werden erarbeitet und fließen in die persönliche Philosophie ein. Man wird zum bewussten Träger und Präger der erkannten Werte. Aus dem Konsumenten ist der Produzent geworden. Sinngemäß publiziert man nun seinen eigenen »spirituellen Taschenkalender« …

Wenden wir die vier Phasen auf den Befund »30 Prozent Kulturkreative« an, so ergeben sich für das gegenwärtige Jahrfünft etwa folgende Ausgangspotenziale:

1.) Latenzphase:

Die griechische Wurzel von »Krise« bedeutet »Scheidung«, »Entscheidung«. Beide Begriffe zeigen den Prozess an, der gemeint ist: Man spürt ansteigend oder plötzlich, das sich ein Riss zwischen der persönlichen Innenwelt und der gewohnten Außenwelt auftut. Man kann ihn noch längere Zeit übermalen, aber irgendwann ist es so weit, dass er sich nicht mehr wegdiskutieren lässt. Die Erkenntnis heißt: »So kann es nicht weitergehen.« In diesem Moment ist man orientierungslos, und in so einem Zustand sollte man keinen Schritt in irgendeine Richtung tun, sondern innehalten und den Weg analysieren, der einen bis hierhin gebracht hat. Erst wenn der Missstand erkannt ist, verfügt man über Kriterien, mit denen sich die Irrtümer des bisherigen Wegs von den Ahnungen über den weiteren Weg scheiden lassen. Das bedeutet innere Arbeit und ist keineswegs damit erledigt, dass man mal schnell den Lifestyle wechselt. Die Krisen können persönlicher Natur sein, sie können mit Beziehung zu tun haben oder aus dem beruflichen Tätigkeitsfeld herrühren. Es kann eine geistige Krise sein, dass man bestimmte Nachrichten nicht mehr länger hören will, dass man politische Entwicklungen in seiner Gemeinde nicht mehr dulden kann etc. Was immer die Ursache ist, man scheidet aus dem Gewohnten aus und entscheidet sich, »so nicht mehr weiterzumachen«. In dieser Phase hört man auf viele Signale. Da man noch keine Kriterien zur Unterscheidung entwickelt hat, ist die Gefahr der Manipulierbarkeit groß.

In Deutschland bedeuten 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung etwa 20 Millionen Menschen. Von diesem Gesamtpotenzial kulturell Kreativer macht der Anteil derer, die sich in der Latenzphase befinden, nach gegenwärtiger Schätzung rund 80 Prozent aus. Das heißt, es gibt in der deutschen Bevölkerung rund 16 Millionen Menschen, die spüren und sich eingestehen, dass es so nicht mehr weitergehen kann.

2.) Phase der Neuorientierung:

Menschen, die die Phase der Orientierungslosigkeit mit einer gründlichen Analyse der Ursachen für die Krise genutzt haben, wagen es, Neuland zu betreten. Sie suchen nach Hinweisen auf eine andere Lebensqualität und beginnen, sich in neue Lesestoffe, neue Veranstaltungen, neue Konsumumgebungen, andere Lebensführung hineinzutasten, sich dabei selbst zu erfahren, eine neue Wahrnehmung von ihrer Umgebung zu entwickeln, die Umgebung selbst neu zu gestalten, einen neuen Freundeskreis zu erschließen, eine sinnvolle und erfüllende Tätigkeit aufzunehmen. Dies zieht in den allerseltensten Fällen materiellen Gewinn oder gar sozialen Aufstieg nach sich, im Gegenteil: Da es sich um tiefgreifende Lebensentscheidungen handelt, besinnt man sich auf Wesentliches, verzichtet auf bisher für unverzichtbar erachtete Güter, Privilegien und sonstige Annehmlichkeiten und geht der oberflächlichen Konsumwelt ein ganzes Stück verloren. (Wohlgemerkt: der oberflächlichen Kosumwelt. Unternehmen, die den Wandel selbst durchleben und wenigstens bis in das Stadium 3 vordringen, werden im Ressourcenbewusstsein der Kulturkreativen einen nachhaltigen Platz finden.) Bei dieser Neuorientierung tauchen häufig Ziele auf, die zwar utopisch oder esoterisch bis sektiererisch sind oder die Hinwendung zu einem Guru einschließen, jedoch eine Überdosis Gefühl auslösen. Sie werden als hochenergetische Angelpunkte benutzt, um die herum man die Richtung wechseln kann. Werden diese jedoch nicht rechtzeitig losgelassen, besteht die Gefahr, in dieselben Abhängigkeitsmechanismen zu geraten, denen man eigentlich entkommen wollte. (In diesem Fall gibt es in der Regel über den Umweg weiterer Krisen neue Chancen, die wieder mit dem Erkennen von vorne beginnen: »So kann es nicht weitergehen.«) Eine weitere Gefahr besteht darin, auf dem Weg der Selbsterfahrung die Gemeinschaftserfahrung zu übersehen. Ein längerer oder kürzerer Ausflug durch narzisstische Gefilde ist die Folge, die vom noch zu besprechenden LOHAS bis zum Hedonismus materiell erfolgreicher Bobos (»Bourgeoise Bohemiens«) David Brooksscher Prägung reichen.

Es gibt Hinweise, dass der Anteil Kulturkreativer, die sich gegenwärtig in diesem polyvalenten Stadium befinden, etwa 90 Prozent derjenigen ausmacht, für die Phase 1 bereits Vergangenheit ist. Das wären 3,6 Millionen Erwachsene in Deutschland.

3.) Einüben neuen Verhaltens:

Die Phase der Neuorientierung geht mehr oder weniger überlappend über in die Phase des veränderten Verhaltens. Die Gruppe der Kulturkreativen, die den Satz »Jute statt Plastik« sinngemäß auf alle Bereiche ihres Alltags anzuwenden sich bemühen, hat einen längeren Lernprozess hinter sich. Sie erkennen sich als Teilnehmer eines gemeinschaftlichen Prozesses, der schließlich auch die persönliche Lebensform herausfordert. Man bewegt sich noch eine Stufe weiter von den »Lifestyles« weg, hin zu einer Lebensauffassung, die immer weniger Konjunktive zulässt: »Man sollte, ich könnte, eigentlich müsste ich …«. Gemeinschaft als Lebensform wird interessant, gleich, ob man jung oder alt ist, in der Stadt oder auf dem Land lebt. Partnerschaft wird als essenziell erfahren und als etwas, das man geben kann und in das man um der Gemeinschaft willen investiert, nicht, weil man selbst etwas braucht. Beziehungen werden verbindlich. Anstelle von Konsum tritt Ressourcenbewusstsein, an die Stelle von persönlichem Genuss tritt soziales Engagement etc. Diese neuen Haltungen sind bedroht. Das alte Umfeld verletzt einen durch Unverständnis, der Bruch von verbrauchten Beziehungen wird als notwendig, aber mit innerer Qual verbunden erlebt, das alte Verlangen nach gewohnten Befriedigungen nagt am Lebensgenuss und lässt sich nur durch strikte Negierungen niederhalten. Bestätigung, das Richtige zu tun, wird fast ausschließlich aus der Gemeinschaft der Gleichgesinnten erfahren. Das macht die Menschen in dieser Phase für Dogmatismus und Fundamentalismus empfänglich, und dem kann nur durch weltoffene Strukturen und umfassende Bildung begegnet werden.

Die Zahl derer, die bis zu Phase 3 vorgedrungen sind, liegt, soweit wir es gegenwärtig abschätzen können, bei einer Größenordnung von 95 Prozent der Menschen, die durch Phase 2 gegangen sind, also rund 380.000.

4.) Integration und Authentizität:

Bildung, die schließlich als Herzensbildung begriffen wird, führt am Ende des Wandlungsprozesses zu einem neuen Bewusstsein, das sich vor allem im Dialog geschult hat. Dialog- und Gemeinschaftsfähigkeit sind zwei der Kernkompetenzen, mit denen der Kulturkreative in dieser Phase zu den Grundmechanismen der (westlichen) Gesellschaften vordringt. Er lebt ein erfülltes, selbstgesteuertes Leben, das Innenwelt und Außenwelt weitgehend integriert, und hat zu einer Lebensform gefunden, die es ihm ermöglicht, seine Fähigkeiten in hohem Maß befriedigend in den sozialen Organismus einzubringen. Er stellt den Prinzipien Wirtschaftswachstum, Geld und Zins, Parteienstaat, organisierte Spiritualität etc. kreative, kleingliedrige Selbstorganisation gegenüber. Er findet Ausdrucksformen, die seine Lebens- und Weltauffassung ansteckend wirken lassen. Er gehört zu den Agenten sozialer Innovation. Die Phase-4-Menschen sind einerseits diejenigen, die eine neue Kultur beschreiben, erschaffen, vormodellieren, im wahren Wortsinn also Kulturkreateurinnen und -kreateure sind. Zugleich leben sie den Wandel buchstäblich, und das enthebt sie in gewisser Weise einer Klassenzugehörigkeit, da sie morgen bereits die nächsten Elemente des Wandels manifestieren. Sie fühlen sich im Dienst des Ganzen und erleben sich als fähig, dieser Herausforderung angemessen begegnen zu können.

Diese von Paul Ray »Core group« genannte Untermenge der Kulturkreativen umfasst nach bisherigen Schätzungen gegenwärtig rund 20.000 Personen in Deutschland.

Selbstverständlich ist diese Schilderung der vier Phasen, in denen sich das Phänomen der kulturell Kreativen derzeit zeigt, stark überzeichnet und idealisiert. Mit Absicht. Denn es gibt einstweilen mehrere konkurrierende Begriffe, die alle vorgeben, dasselbe zu meinen: Postmoderne, Postmaterialisten, Integrale Kultur, Transmaterialisten … und schließlich LOHAS. Das Akronym bedeutet »Lifstyles of Health and Sustainability«, was soviel heißt wie »gesundheitsbewusster, nachhaltiger Lebensstil«. LOHAS hat sich in jüngster Zeit zu einem Zauberwort in der Wirtschaft entwickelt: Gesundheit und Nachhaltigkeit als tragende Elemente eines neuen Lebensstils – das ist endlich mal wieder ein neues Zielpublikum, das mit entsprechend designten Produkten und den richtigen Reizwörtern gewonnen werden kann.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich jedoch der wichtigste Unterschied zum kulturkreativen Konzept: LOHAS beschreibt ein Kosumentensegment, während Kulturkreative sich anschicken, zu einer Wertegemeinschaft heranzuwachsen. LOHAS verspricht wachsende Umsätze, die kulturell Kreativen arbeiten an einer gewandelten Welt. LOHAS bewegt die Märkte, die Kulturkreativen haben das Zeug, zur Bürgerberwegung zu werden.

Das LOHAS-Segment ist Ausdruck einer postmodernen, urbanen Lebensführung, wobei der mit Spaßfaktor erworbene Wohlstand nun für bessere Fitness ausgegeben und dabei noch »an die Umwelt gedacht« wird. Auch die Seele wird als nützliche Ressource für »Gesundheit« genutzt; so lassen sich noch Retreats und Gebetsübungen als essenziell für den ganzheitlichen Lustgewinn vermarkten. LOHAS bedeutet in keiner Weise Abschied vom Konsumismus, im Gegenteil, er verbindet diesen mit einem besseren Gewissen. Stark vereinfachend gesagt. Angehörige des LOHAS-Segments sind nicht an dem Punkt angekommen, wo sie erkennen, dass es »so nicht mehr weitergeht«. Sie meinen, mit gewissen Modifikationen, eben mehr Gesundheitsbewusstsein und einem etwas besseren Kümmern um die Umwelt gehe es doch wunderbar weiter – und es sei sogar noch lustig und kreativ. Wer hingegen als Kulturkreativer in Phase 2 erkennt, dass er nicht weiß, wie er ein wahrhaft nachhaltiges Leben führen soll, in der Stadt, auf dem Land ohne Auto, mit Atomstrom, mit einem zynischen Schulsystem, mit lohnabhängiger Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit oder was immer an Bedrückendem zur in Phase 1 durchlebten Krise geführt hat, forscht tiefer und sucht fast immer das Einfachere.

Der in jüngster Zeit aufgekommene Begriff LOVOS trifft da schon eher: »Lifestyles of Voluntary Simplicity« – ein »freiwillig einfacher Lebensstil«. Während die LOHAS auf Biodiesel umsteigen, aber den Spaß am Auto weiterhin für sich reklamieren, verzichten LOVOS auf das Auto. Die LOVOS schaffen den Fernseher ab, während LOHAS-Kunden die Alpenflora mit Skiern schädigen, denen spirituelle Botschaften aufgepinselt sind. Die LOHAS-Industrie wird sich in den nächsten Jahren alle Mühe geben, Kulturkreative der Phase 1 dort abzufangen, wo sie merken, »so geht es nicht mehr weiter«. Und bevor sie noch Zeit hatten, sich in Ruhe nach neuen Werten zu orientieren (denn das müssten sie erst unter Häutungsschmerzen lernen), macht man ihnen beispielsweise vor, mit dem Verbrauch von Rapsöl auf ihren Gesundheitsreisen förderten sie die Welt. Es dauert, bis man lernt, dass Rapsöl mit dem höchsten Agrochemieeinsatz produziert wird. So wird kulturkreative Partizipation lediglich in »guten« Konsum umgebogen. Mit gutem Gewissen genießen – das heißt für LOHAS die mit Strom aus der Fotovoltaikanlage statt aus dem Atomkraftwerk betriebene Sonnenbank, für den Kulturkreativen das Nachbarschaftsfest mit Selbstgemachtem zur Eröffnung des neuen Mehrgenerationenhauses.

Ökonomen erschrecken in der Regel vor solchen Einsichten: Authentizität ist ein Wert, und Werte und Haltung sind – im Unterschied zu Meinung und Bedürfnis – bekanntlich nicht ausbeutbar. Interessant ist andererseits, dass kulturkreative Unternehmer dennoch erfolgreich sind, obwohl ihr »Markt« nicht schnell wächst, obwohl die Investition in Produkte von innerem und äußerem Wert sich nicht schnell in klingender Münze auszahlt, da es um lange Lebensdauer, ausgereiftes, ergonomisches etc. Design und um persönliche Faktoren geht.

Während die LOVOS auf dem Weg zum einfachen Leben vom Puritanismus überholt werden, suchen Kulturkreative der Phasen 3 und 4 Lebensfreude statt Spaß, ein gebendes Leben statt Verzicht, verstehen sie sich als lernende Gemeinschaften in lernenden Regionen. Sie organisieren sich in Netzwerken, die beginnen, sich als Präger und Träger neu sich artikulierender Werte zu begreifen. Zu diesen gehören freilich auch die jeweils beiden letzten Buchstaben von LOHAS und LOVOS: Sustainability und Simplicity. Nachhaltigkeit ist keine Mode, sie ist eine Lebenshaltung, deren Wurzel in die Erkenntnis des einen Planeten Gaia eingesenkt ist. Dasselbe gilt für die Einfachheit: Angesichts der globalen Umwälzungen, die zwar für jedermann erkennbar in allen Bereichen stattfinden, heute aber erst für das Klima, das Migrationsphänomen und den Kapitalismus anerkannt werden, wird Einfachheit nicht zu einem »freiwilligen« Verzicht, sondern zu eine Lebenshaltung, die sich aus den Bedürfnissen Gaias heraus speist. So führen beide L-Wörter am Ende zu einem neuen Phänomen, das den fundamentalen gemeinsamen Nenner der Kulturkreativen ausmacht: Ich nenne es Gaiabewusstsein.

Gaiabewusstsein von dieser Wucht hat nichts mit dem Gefühlsdusel zu tun, in den man sich in Wohlfühlkreisen mit pseudoindianischen Ritualen, großstadtschamanischen »Trancetechniken« oder bergkristallgeschwängertem Energiewaser hineinvibriert. Gaia ist schließlich kein Seifenbläschen, kein hinfälliges Mütterchen, das unserer »Heilung« bedürfte, kein ätherischer Gallertkörper inmitten eines kosmischen Naturschutzgebiets. Gaiabewusstsein setzt Bildung voraus – nicht Hochschulbildung oder Spezialwissen (obwohl für das Kommende äußerst wichtig), sondern Herzensbildung. Gaiabewusstsein setzt Gemeinsinn voraus – nicht eine Spaßgesellschaft oder separatistische Bewegungen der Besserseinwollenden. Gaiabewusstsein erkennt den Menschen als Ausdruck eines größeren Körpers, der weder Unterwürfigkeit verlangt noch Anlass zu Übermut gibt, der weder hilflos den menschlichen Umtrieben ausgesetzt ist noch Grund für süßlichen »Wir-sind-doch-Kinder-der-Erde«-Kitsch bietet.

Aus diesem Bewusstsein heraus hat Michail Gorbatschow im Mai 2002 folgende Sätze in sein Vorwort zu Ervin Laszlos Buch »You Can Change the World« geschrieben: »Wir dürfen nicht warten, bis die Krise unserer Gesellschaft den Punkt ohne Wiederkehr erreicht hat. Wir müssen handeln! Jeder Mensch kann handeln! Wenn jede und jeder den persönlich möglichen Beitrag leistet, werden wir schaffen, was not tut. Wir können vor allem Einfluss nehmen auf jene, die mit ihrer Politik das Schicksal der Gesellschaft bestimmen, und sie dazu drängen, die nötigen Veränderungen einzuleiten – Veränderungen, die nicht nur die Krise beenden, sondern die uns auf den Weg des Überlebens der Menschheit, einer gesunden Entwicklung von Mensch und Natur und einer besseren Lebensqualität für uns alle leiten.«

Damit sind die Kulturkreativen gemeint.

Wird so die Welt gerettet? Wenn sich genügend Menschen mit all ihrer Kreativität unserer Kultur annehmen und selbst den Wandel leben, dann vielleicht, ja.