Zwar scheint der Zeitpunkt unseres Sterbens – wie auch der unserer Geburt – wesentlich mehr von unserer persönlichen Entscheidung bestimmt zu sein, als wir glauben. Doch was, wenn Ihnen jemand sagt, ich kenne meine Todesstunde, schreib dir das Datum auf, du sollst dabei sein und dies und das für mich tun? So geschah es mir einst durch eine betagte, an den geistigen Dingen des Lebens leidenschaftlich teilhabende Dichterin. Ich konnte nicht ablehnen; ich war einer von drei auserwählten Menschen aus ihrem großen Freundeskreis, die sie für ihre Todesstunde verpflichtete. – Noch war es einige Jahre hin.

Je näher der gewisse Tag kam, umso mulmiger wurde mir zumute. Was, wenn »Freund Hein«, wie sie den Tod nannte, sie nicht abholen würde? Sie war rüstig, und ein gesundes Herz hält man nicht so mir nichts, dir nichts, an. Sie gab ein Abschiedsfest. Ein als Tod kostümierter Gast führte sie tangotanzend aus dem Saal. Das sollte heißen: Seht her, der Tod ist nicht schrecklich! Ich will euch ein Beispiel sein dafür, dass man bewusst und ohne Furcht eingehen kann in das Reich des Ganzen, Einen. Die weitaus meisten der gut hundert Geladenen wendeten sich von ihr ab. Sie verurteilten es als hoffärtig, sich so zu produzieren. Meine alte Freundin aber beteuerte, ihr Wissen um ihre Todesstunde zwinge sie dazu, demütig ihre Pflicht zu erfüllen und allen diese Lehre zu geben.

Als ich an besagtem Morgen schellte, war sie noch nicht zu Bett gewesen. Sie hatte bis zuletzt an ihrer Autobiografie gearbeitet. Die Wohnung war fast leergeräumt, der Mietvertrag war gekündigt. Auf dem verbliebenen Tisch lagen die fertig kuvertierten Todesanzeigen, der Arzt sollte am nächsten Vormittag kommen und die Sterbeurkunde ausstellen. – Die beiden anderen Freunde trafen ein, und schließlich war es soweit. Im Lotossitz versank sie in eine tiefe Meditation, während wir drei Begleiter behutsam die uns zugedachten rituellen Aufgaben ausführten. Die Stunden verschwebten, Stunden, in denen ich selbst mehrere Tode starb und wieder auferstand. Kein Wechselbad der Gefühle war lehrreicher in meinem Leben als dieses Ausharren mit einem bis in den Tod überzeugten, sich fürchterlich irrenden Menschen, weniges herausfordernder als dieses von intensiven ­Gesichten durchzogene, wortlose Warten auf eine Katharsis, die kommen musste, irgendwann.

Eine vollkommen entrückte halbe Nacht war vergangen, da rührte sich etwas in ihrem beinahe durchsichtig gewordenen greisen, zarten Körper, und mit einem abgrundtiefen Seufzer brach sie die lange Stille: »Freund Hein hat mich als nicht würdig empfunden.«

Nie werde ich das Gespräch vergessen, das folgte. Nie empfand ich größere Hochachtung vor einem Menschen, der seinen – nur allzu menschlichen – Hochmut ohne die geringste Beschönigung einsah, sein Irren annahm und von Stund an geläutert zu einem selbstlosen Werk aufbrach, das nun in einem neuen Leben spielte. Das alte Leben war vollständig zu einem Ende gekommen.

Sie starb dann viel später, nach Jahren leidvollen Dämmerns, weit entfernt von der Klarheit, in der sie Freund Hein strahlend entgegengegangen war.

Genießen Sie den Herbst! Herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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