Wer etwas geheimhält, hat etwas zu verbergen: etwas Verwerfliches, Peinliches, Intimes, zumindest etwas Egoistisches – so die ersten Signale, die unseren präfrontalen Cortex aus dem Stammhirn erreichen, wenn wir mit Geheimhaltung konfrontiert werden. Ein ausreichend kultiviertes Großhirn lässt auch noch die Variante zu, dass uns der geheimniskrämernde Mitmensch vielleicht überraschen möchte. Doch das ist nur dünner Firnis über der Grundbotschaft: Wir sind es nicht wert, ins Vertrauen gezogen zu werden, wir sollen unwissend bleiben, man hält uns für zu schwach, einer harten Wahrheit standzuhalten. Das Prinzip haben wir mit den Primaten gemein: Wenn der Affenoberboss in der Nähe ist, halten die Unteraffen eine Futterquelle, die nur ihnen allein bekannt ist, geheim und beuten sie erst dann aus, wenn der Oberboss abgelenkt ist und sie sich unbeobachtet wähnen. Und sie schwindeln auch: Kapuzineraffen zum Beispiel warnen gern vor fiktiven Gefahren – und dann machen sich die Egoisten über die von der geflohenen Horde zurückgelassene Mahlzeit her.

Das kam mir in den Sinn, als ich kürzlich folgende DPA-Meldung las: »Verhandlungen zu Freihandelsabkommen: Brüssel verteidigt schärfere Geheimhaltung bei TTIP«. So verschickte die EU-Kommission den vertraulichen Bericht über die zehnte Gesprächsrunde mit den Amerikanern nicht mehr an die EU-Mitgliedsstaaten, sondern macht ihn nur noch für Beamte und Abgeordnete in einem sicheren Leseraum in Brüssel zugänglich. Richard Kühnel, Vertreter der Kommission in Deutschland, verteidigte die Maßnahme: »Dieser Bericht enthält auch taktische Überlegungen und unsere interne Bewertung von US-Positionen.« Bestimmte Enthüllungen schwächten die Verhandlungsposition der EU und machten es schwieriger, das beste Ergebnis im Interesse Europas und seiner Bürger zu erzielen.

Mein Primatenhirn konstruiert da sogleich: Wenn die Verhandlungen so geheim sind, dass selbst die mit TTIP befassten Fachleute nur noch im Hoch­sicherheitstrakt informiert werden, dann muss in dem Paket tatsächlich etwas drinstehen, vor dessen Veröffentlichung die Verhandler Angst haben müssen! Ganz offensichtlich misstrauen sich ja sogar die Verhandlungspartner – oder wollen die EU-Leute die Amerikaner noch fieser über den Tisch ziehen als sie es von Letzteren befürchten? Geht es nicht um ein »Frei«-Handelsabkommen unter angeblich Gleichen? Und träufelt man nicht den Balsam »größtmöglicher Transparenz« in die Augen scharfsichtiger Bürgerinnen und Bürger, die das Ganze als großen Schmu vertrauensunwürdiger, egoistischer Wirtschaftsoberbosse durchschauen? »Das beste Ergebnis im Interesse Europas und seiner Bürger« will man erzielen? Angeblich geht es doch um einen beiderseitigen Nutzen! Müssten da nicht beide Seiten vertrauensvoll offenlegen, was ihnen ­jeweils nützt, und kein Versteckspiel betreiben?

Auf solchem Boden wächst keine solidarische, einander zugewandte Welt. Den Boden müssen wir selbst bereiten, und das sollten wir nicht geheimhalten.

Der Herbst kommt, lassen Sie sich’s nicht verdrießen! Herzlich,

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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