In einem seiner »Vier Bücher von menschlicher Proportion«, über deren Einrichtung zum Druck Albrecht Dürer 1528 überraschend verstarb, findet sich der in der Kunstgeschichte vielbedachte Satz: »Das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit dieser Ding, darum sieh sie fleißig an, richt dich darnach und geh nit ab von der Natur in dein gut Gedünken.« Ich kannte den Satz nicht, als ich Dürers »großes Rasenstück« erstmals sah. Damals, als man sich als junger Mensch das Gewordensein unseres Denkens, unserer Welteinschätzung und unserer Grundannahmen – generell »Geschichte« genannt – noch mit Hilfe von Büchern erschloss, stieß ich in einem Kunstband auf die Reproduktion jenes Wasserfarbenbilds. Wer es nicht kennen sollte, googelt »Dürer Rasenstück«.

Ein unscheinbares Stück Wiese – und deswegen revolutionär: Nie zuvor hatte ein Maler soviel Sorgfalt in die Beobachtung und präzise Darstellung eines simplen Natur-Sujets ohne sakrale oder profane »Bedeutung« gelegt. Das Bild sank mir in die Seele. Seitdem begleitet mich die Qualität des Konvivialen, die als tiefe Kunst aus dem Bild dringt: Das dichte und dabei graziös und frei atmende Zusammenleben von Lebewesen, die sich endlichen Raum und begrenzte Lebensquellen symbio­tisch teilen, ohne Drang – und hier, da es sich um Pflanzen handelt, ohne Möglichkeit –, voneinander wegzulaufen, ist mir ein Ideal für die gesamte Lebensgemeinschaft in unserer großen, kleinen Planetin.

Wie anders das Rasenstück auf dem Titelbild dieser Oya-Ausgabe: ein Stück Monokultur, offensichtlich Weidelgras. Nicht Dürers Wiesen-Wirklichkeit aus Rispen- und Knäuelgras, Ehrenpreis, Breitwegerich, Schafgarbe, Löwenzahn und Gänseblümchen – und um vieles ärmer als meine eigene Erinnerung an die Spielwiesen noch meiner Kinderjahre: kein Wiesenschaumkraut, kein Hahnenfuß, keine Kamille und was der seit dem Siegeszug von Kunstdünger und »­Unkrautvernichtungsmitteln« dahingegangenen Pflanzenüppigkeit mehr ist.

Das kleine Rasenstück, das auf dem Titel schwebt wie unsere zerbrechliche Erde im All, ist Mahnmal und Appell, Erinnerung und Vision zugleich: Der Verlust der Arten infolge der Fehlentwicklung des Bäuerlichen hin zu einem Industriemoloch macht uns alle arm. Wir müssen den Schwund der Biodiversität stoppen, dem chemischen Kreuzzug gegen das große Leben unter dem Banner des agrarischen Fortschritts ein Ende setzen – und noch mehr als das! »Geh nit ab von der Natur«: Das erlaubt uns, den pflanzlichen Stoffwechsel zu erforschen, oder zu fragen, wie das Wunderwerk des Lebens an ein so kleines Sub­strat von Genen gebunden sein kann – »darum sieh sie fleißig an«. Es verbietet uns aber, den Befund nach »unser gut Gedünken« zum Schaden unserer Enkelinnen und Enkel und der mehr-als-menschlichen Welt zu missbrauchen. Auch das Rasenstück auf dem Titel »gibt zu erkennen die Wahrheit dieser Ding«!

Und wenn Sie über all das genug meditiert haben, dann suchen Sie im Internet auf der Seite www.bayergarten.de nach Permaclean und feiern ein Wiedersehen mit einigen der genannten Pflanzen …

Ein artenreiches Gartenjahr wünscht Ihnen

Ihr Johannes Heimrath (Herausgeber)

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